1621 - Die Verdammten
Verletzten auf die Beine zog und ihn festhalten musste, denn stehen konnte er nicht mehr.
»Fliegen«, flüsterte ich, »warum fliegen sie nicht?«
Als hätten sie meine Worte gehört, so versuchten sie es. Aber das Schicksal war gegen sie. Der Verletzte versuchte noch, seine Flügel auszubreiten, was ihm aber nur einmal gelang, denn bei der zweiten Bewegung lösten sie sich einfach auf. Sie wurden zu einem Material, das wie Asche zu Boden fiel.
Der Nephilim war jetzt ohne Flügel!
Und ich sah diesem Vorgang fassungslos zu. Für mich war es so etwas wie der Anfang vom Ende, auch wenn der zweite Verdammte das nicht wahrhaben wollte. Er gab einen dünnen Schrei ab. Dann packte er seinen Artgenossen und hob ihn auf seine Arme.
Er wollte mit ihm fliehen. Es war nicht so leicht für ihn, zu starten. Er musste erst einen Anlauf nehmen, was er auch tat. Der Hof bot Platz genug.
Der Verdammte fing an zu laufen, erst langsam, dann immer schneller.
Und er hatte nur Augen und Sinne für sich und seine Aktion. Er schaute nicht in die Höhe. Hätte er das getan, wäre ihm die Veränderung aufgefallen, denn die vier Strahlen bewegten sich plötzlich. Sie blieben nicht mehr an der Stelle, wo sie erschienen waren.
Sie wurden zu Verfolgern, und bevor der Nephilim den Punkt erreicht hatte, an dem er abheben konnte, hatten sie ihn gestellt.
Das war der Moment, an dem auch ich die beiden sehr deutlich sah, denn sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes durch das Licht gefesselt.
Es war kein normales Licht.
Es waren die vier Strahlen, die von einer Urkraft stammten, und ich wusste, dass die Erzengel eingegriffen hatten. Sie wollten nicht, dass diese Gestalten überlebten, und hüllten sie mit ihrer Kraft ein.
Der Verdammte kam nicht mehr weiter. Er stolperte noch ein paar Schritte nach vorn, dann verließ ihn die Kraft. Mit seinem Gefährten auf den Armen brach er auf der Stelle zusammen.
Beide lagen am Boden. Beide wurden vom Licht angestrahlt, und es sah so aus, als befänden sie sich als Mittelpunkt in einer Zirkusarena.
Ich überlegte, ob ich zu ihnen gehen sollte. Eine innere Stimme hielt mich zurück. So blieb ich weiterhin Zuschauer.
Der nicht verletzte Nephilim hob den Kopf. Er wollte sehen, was geschah, aber er sah seine Feinde nicht. Er spürte nur ihre Macht, die sich in diesem Licht vereinigte, das ihn nicht loslassen wollte.
Die beiden Verdammten vergingen.
Schon einmal hatte ich gesehen, dass Flügel zu Asche wurden. So etwas Ähnliches geschah jetzt auch, aber die Körper zerfielen nicht. Mit ihnen geschah etwas anderes, denn das, was sie schon längst hätten sein müssen, wurden sie jetzt.
Die beiden Verdammten verwesten auf dem Hof liegend. Da das Licht sie weiterhin unter Kontrolle hielt, war ich in der Lage, diesem Vorgang zuzuschauen.
Das war keine erhebende Szene, aber ich wollte den Kopf auch nicht wegdrehen, denn ich musste mir sicher sein, dass von ihnen nichts übrig blieb.
Als widerlich empfand ich die Wolke, die den Verwesungsgeruch in meine Nähe brachte. Sie raubte mir den Atem, und für einen Moment hatte ich den Eindruck, zwischen zahlreichen faulenden Leichen zu stehen. Aber es waren nur zwei, bei denen sich das Fleisch auflöste, die Haare ausfielen, Knochen und Muskeln zum Vorschein kamen, die bald darauf zu Klumpen wurden.
Beide hielten sich umklammert, als wollten sie sich gegenseitig den letzten Schutz geben.
Sie schafften es nicht. Das Licht der Erzengel hatte sie wie eine Botschaft aus der Vergangenheit erreicht und das getan, was es schon längst hätte tun müssen.
Die Nephilim waren und blieben vernichtet.
Das Licht zog sich jetzt zurück. Auch die Buchstaben auf meinem Kreuz leuchteten nicht mehr. Wieder einmal war mir bewiesen worden, dass es doch eine höhere Macht gab, die sogar recht vielfältig war.
Ich fühlte mich erleichtert, holte meine Lampe hervor und ging auf die Reste zu. Als ich sie anleuchtete, sah ich, dass es wirklich nur Reste waren. Keine Flügel mehr, keine normalen Körper, nur noch die alten Lumpen, die sie als Kleidung getragen hatten.
Welch eine Nacht!
***
Ich ging zurück ins Haus, denn dort warteten zwei Menschen auf mich, die vor Spannung und Furcht sicherlich vergingen. Ich fand sie noch immer auf dem Sofa sitzend. Mutter und Sohn hielten sich umschlungen, als wollten sie sich nie mehr loslassen.
Erst als ich den Tisch erreicht hatte, sprach ich sie an und schaute dabei in zwei schreckgeweitete Augenpaare.
»Es ist vorbei«, sagte ich.
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