1623 - Dimension des Grauens
oder nur wüste Projektionen, die Vergangenes und Kommendes, Geschehenes und Zukünftiges, Wahres und Mögliches in wildem Kaleidoskop durcheinanderwirbelten.
Ich sah mich selbst in jungen Jahren, auf den Lippen ein verlegenes Grinsen - auch ein Kristallprinz konnte vor dem ersten Kuß seines Lebens rot anlaufen - das sich im Bruchteil eines Herzschlages zum schmierigen Grinsen eines lüsternen alten Mannes verwandelte, der ich nie gewesen war, vielleicht aber hätte Werden können, wenn mein Schicksal einen anderen, gänzlich abweichenden Verlauf genommen hätte. Krankheit, Wahnsinn, Schmerz und Tod hinterließen ihre unverwechselbaren Abdrücke auf diesem Gesicht, das meines war und doch nicht mir gehörte.
Als würde mein Abbild in einer Parforce-Jagd der Möglichkeiten durch alle Dimensionen und Zeiten gejagt, so überschlugen sich die Eindrücke. Längst Vergangenes stieg, ausgelöst durch diese Bilder, wieder in mir auf, zugleich keimte in meinem Denken die Andeutung einer Zukunft auf, die mein Herz in den Eismantel des Grauens tauchte.
Eine gräßliche, haßberstende Fratze stierte mich an - ich selbst.
Ein sabbernder Idiot war zu sehen -auch das war ich, würde ich werden, könnte ich sein?
Ich wußte es nicht.
Mir war klar, daß ich es in diesem Raum mit Dingen zu tun hatte, die sonst niemand begreifen würde.
Ein langgezogener Schrei des Grauens war zu hören. Ich wandte den Kopf.
Neben mir, dort, wo vor kurzer Zeit noch Gherada Ipharsyn gestanden hatte, stand nun ein Mann, unverkennbar ein Akone, das Gesicht verzerrt, am ganzen Leib zuckend und zappelnd.
Handelte es sich dabei, wie bei den anderen Phänomenen auch, um eine Projektion meines Geistes? Oder spiegelten sich in diesem von irrlichterndem Wahnsinn verzerrten Gesicht die geheimen Ängste und Befürchtungen der Geheimdienstspezialistin für den Bereich Akon, Blaue Legion?
Wie auch immer - die Gefahr war nicht zu übersehen. „Hinauf." schrie ich in das kleine Mikrophon.
Unsere Plattform ruckte sanft an, trug uns wieder in die Höhe.
Einen letzten Blick warf ich in das Spiegelkabinett des Grauens und blickte in ein Arkonidengesicht, das müde war vom Leben, abgekämpft und ausgelutscht von spurenlosem Alter und immerwährender Einsamkeit; eines Mannes, der sich erschöpft und ausgelebt hatte, für immer - körperlich wohl noch tauglich und munter, geistig immer noch rege, aber von aller Seelenkraft verlassen.
Und in diesem Augenblick wußte ich, daß mir dieser eigentümliche, unbegreifliche Kristallspiegel einen Blick in den Bereich des Möglichen gewährt hatte - in eine Region, die ich niemals zuvor betreten hatte und die ich, wenn irgend möglich, niemals wieder aufsuchen wollte.
Es war Gherada Ipharsyn, die neben mir auf der kleinen Plattform lag und schrie, zuckte und zappelte. Von dem Mann, den ich gerade noch gesehen hatte, der dem Tod ebenso nahe gewesen war wie dem vollkommenen Wahnsinn, von diesem Akonen fehlte jede Spur. Eine Täuschung mehr, die auf die geheimnisvollen Kräfte dieses Kristalls zurückzuführen war.
Per Kristall selbst ist nicht gefährlich, analysierte der Logiksektor das Geschehene. Die Gefahr liegt in deinen Gedanken allein.
Ich begriff den Hinweis nicht.
Was ich gesehen hatte - waren es Spiegelungen irgendeiner Realität gewesen, einer existierenden Welt? War es der Widerschein von Welten gewesen, die noch zu kommen hatten? Ein böser, übler Spuk des Fiktivwesens von Wanderer?
Ich wußte es nicht.
Gherada Ipharsyn wurde davongebrächt; es würde dauern, bis sie wieder Herrin ihres Verstandes sein würde, vielleicht würde sie nie wieder zu Verstand kommen.
Ich ahnte, daß ich durch meine besondere Begabung zugleich besonders gefährdet gewesen war - und von ihr auch gerettet worden war.
Ohne den Logiksektor wäre ich dem gewaltigen geistigen Ansturm wahrscheinlich erlegen, ebenso wie Gherada Ipharsyn.
Ich holte tief Luft.
Unter mir glänzte und gleißte das Phantom aus fremder Dimension, der Besucher aus einem Kontinuum des Grauens.
Ich ahnte, daß dies nicht der letzte Kontakt mit dieser Sphäre sein würde. Wenn wir die Tote Zone mit ihrer lebensbedrohenden Wirkung überwinden wollten, dann würden wir uns auch dieser Bedrohung und Gefahr stellen müssen.
Selbst wenn sie uns mehr kosten konnte als das Leben ... Vielmehr...
ENDE
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