1638 - Leichenspur des Künstlers
lassen. Sie hatte sich kaum zusammenreißen können und wäre beinahe an ihrem Knebel erstickt.
Aber der Anfall war vorbeigegangen, sie lebte immer hoch, spürte weiterhin die Kälte des Wassers, die ihren Unterkörper allmählich in einen Eisblock verwandelte.
Kam der Unbekannte zurück?
Diese Frage hatte sich Iris mehr als einmal gestellt. Dass er zurückkam, war eigentlich logisch. Auf der einen Seite wünschte sie es sich sogar, denn dann hätte sie endlich Klarheit gehabt. Auch wenn es für sie tödlich enden konnte.
Um vor Kälte nicht völlig steif zu werden, versuchte sie ihre Glieder zu bewegen.
Das klappte nur bedingt, und wenn sie es tat, hörte sie das leise Klatschen des Wassers.
Genau das übertönte ein anderes Geräusch. Wäre das Klatschen nicht gewesen, hätte sie die Schritte vielleicht gehört. So aber war sie völlig überrascht, als links von ihr am Rand des Teichs, der mit flachen Steinen bedeckt war, eine Gestalt erschien.
Es war ein Mann.
Es war der Typ, der sie überfallen hatte!
***
Obwohl sie ihn bisher nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, ging sie einfach davon aus. Da gab es für sie keine andere Alternative.
Er war wie ein Schatten, und nur sein Gesicht schimmerte wie ein heller Fleck. Sie sah auch, dass er dunkle Haare hatte und in seiner rechten Hand einen Beutel trug.
Mit ihm zusammen tat er die nächsten Schritte, bis er dicht bei ihr war und langsam seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzog. Dabei bückte er sich, bis er eine kniende Haltung erreicht hatte.
Iris Gerwin rollte mit den Augen. Sie wollte dem Fremden ein Zeichen geben, sie von ihren Fesseln oder zumindest von dem Knebel zu befreien. Darauf achtete er nicht. Sie hörte ihn nur heftig einatmen und vernahm auch sein Kichern.
Das war ein sehr böses Gekicher, sodass es für sie wie ein grausames Versprechen für die nahe Zukunft klang.
Der Unbekannte legte den Leinenbeutel ab. Er kümmerte sich zunächst nicht um Iris. Er griff viermal in den Beutel und holte bei jedem Zufassen eine Rebe Trauben hervor. Der Reihe nach legte er sie auf die Steinbegrenzung.
Iris Gerwin ließ den Mann nicht aus den Augen. Da er ihr sehr nahe war, erkannte sie ihn auch trotz der Dunkelheit recht gut, und plötzlich war da eine Erinnerung.
Ja, sie hatte ihn schon mal gesehen. Sie kannte ihn. Nur kam sie nicht darauf, wer er war. Ihr fiel auch kein Name ein. Sie wusste nur, dass er ihr nicht unbekannt war und dass er auch in der näheren Umgebung lebte und etwas Ungewöhnliches tat.
Die Trauben waren aus dem Beutel befreit worden. Der Mann faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Innentasche seiner dunklen dünnen Jacke.
Dabei fielen Iris seine sehr hellen Hände auf. Sie hatten schon eine Leichenfarbe, was nicht normal war, denn ein Toter hatte sie bestimmt nicht besucht.
Als sie genauer hinschaute, da sah sie, dass der Mann dünne Handschuhe trug, hauchdünn und mit einer zweiten Haut zu vergleichen.
Iris hatte genug Krimis gelesen und auch gesehen, um zu wissen, dass der Mann keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte. Das wiederum wies darauf, dass er etwas Schlimmes mit ihr vorhatte.
Wieder überschwemmte sie ein Angststoß. Sie rollte mit den Augen, bewegte ihren gefesselten Körper heftig im Wasser, sodass wieder Wellen entstanden, deren Plätschern sie hörte. Dabei rutschte sie auf dem nassen Untergrund ein Stück von ihrem Entführer weg, was diesem gar nicht gefiel.
Er brauchte nur einen Griff, um sie wieder in seine Nähe zu holen. Dabei hob er den linken Zeigefinger, als wollte er ihr drohen wie ein Lehrer seinem ungehorsamen Schüler.
Danach lächelte er, und er lächelte auch weiterhin, als seine Hand unter der Jacke verschwand. Sie war recht schnell wieder zu sehen, aber jetzt traute Iris ihren Augen nicht, denn die Faust umklammerte den Griff eines langen, spitzen und beidseitig geschliffenen Messers.
Was das bedeutete, wusste sie und erhielt zudem noch in den folgenden Sekunden die Bestätigung.
»Du wirst eine wunderschöne Leiche abgeben. Ja, das verspreche ich dir. Du bist mein neuestes Kunstwerk, und wer dich findet, wird dich bewundern wie auch mich und meine Arbeit. Ich werde meine Spuren hinterlassen. Ich, der Künstler, werde zu internationalem Ruhm gelangen, das kann ich dir versprechen.«
Der Mann hatte so eindringlich geredet, dass Iris davon überschwemmt worden war. Selbst an ihre Angst dachte sie in diesem Moment nicht mehr.
Nur das Messer sah sie.
Die Klinge wies mit
Weitere Kostenlose Bücher