1638 - Leichenspur des Künstlers
der Spitze auf ihren Körper. Eigentlich war der Stahl hell, aber in der Dunkelheit hatte er einen bläulichen Schimmer angenommen.
Iris drehte den Blick weg und schaute stattdessen in das Gesicht des Mannes. Sie hoffte, darin etwas Positives zu sehen, was leider nicht der Fall war. Das Gesicht blieb kalt, glatt, einfach nur ausdruckslos. Dieser Mann gab mit keiner Regung zu verstehen, was tatsächlich in ihm vorging.
Dann nickte er Iris zu und flüsterte: »Ich habe dich in meine Welt geholt. In die Welt der Schmerzen und des Leidens. Die aber muss jeder Mensch durchmachen, bevor er ans Licht kommt. Zuerst die Schmerzen, dann das Glück, ich werde dir beides schenken, das verspreche ich dir hoch und heilig.«
Das Wort heilig aus dem Mund eines derartigen Mannes zu hören, kam Iris schon fast wie ein Sakrileg vor. Sie wusste auch, dass damit das Todesurteil über sie gesprochen worden war, nur konnte sie es nicht fassen. Das war zu unglaublich, zu krass. Es war doch nicht möglich, dass sie hier halb im Wasser lag und ein perverser Killer ihr das antat.
Der Knebel erstickte jeglichen Schrei.
Aber die Schmerzen vermied er nicht, als sich der Künstler ans Werk machte und anfing, sich mit ihr zu beschäftigen…
***
Der Künstler hatte sich Zeit genommen. Sogar recht viel, denn er wollte es besonders gut machen. Jetzt schaute er zu, wie das letzte Blut aus den Wunden sickerte, ins Wasser glitt und dort verdünnt wurde.
Er lächelte. Er war stolz auf sich. Erneut war ihm ein einmaliges Werk gelungen. Wieder ein Unikat. Die Kunstwelt würde aufhorchen, und man würde sich nicht nur in Fachkreisen fragen, wer die Person war, die so etwas hinterließ.
Er war bereits bekannt. Aber trotz aller Anstrengungen war man ihm noch nicht auf die Spur gekommen. Dabei liebte er das Risiko. Er wollte seine Gegner locken. Er wollte sie sogar in seiner Nähe wissen. Es musste ein Katz-und-Maus-Spiel beginnen.
Wofür hatte er sich sonst so angestrengt und eine Leichenspur hinterlassen?
No risk - no fun.
Hier war er fertig. Er beugte sich weit vor, um ins Gesicht der jungen Frau zu schauen. Besonders wichtig waren ihm dabei die Augen. In ihnen stand hin und wieder das, was die Personen in den letzten Sekunden ihres Lebens empfunden hatten. Für ihn waren das regelrechte Bilder. Er konnte sich an der Angst ergötzen.
Auch dieses Gesicht war zu einer starren Maske geworden. Nichts zeigte sich dort mehr. Es sah beinahe schon entspannt aus, was ihm nicht gefiel. Trotzdem war es ein wunderbares Werk, wie er sich selbst durch ein Nicken bestätigte. Nur schade, dass es die Menschen, diese Ignoranten von der Polizei, zerstören würden.
Aber für eine Weile würde es so bleiben. Und er war noch nicht zufrieden damit. Die Weintrauben lagen noch an ihrem Platz. Der Reihe nach nahm er jede Rebe hoch und drapierte sie auf dem starren Körper.
Vier Wunden hatte er geschnitten.
Darauf drückte er die Trauben und flüsterte: »Hallo, du Weinkönigin. Jetzt bist du die Königin unter den Toten…«
Er lächelte und musste einfach neben seinem neuen Kunstwerk bleiben, um es für eine Weile zu betrachten.
Wieder hatte er der Welt ein neues gegeben, und niemandem war es bisher gelungen, ihm auf die Spur zu kommen.
»Das habe ich alles nur für dich getan«, flüsterte er. »Für dich und für die Kunst…«
Es waren Worte, die nach Abschied klangen, die aber noch keine waren, denn jetzt wollte er ein neues Zeichen setzen. Er hatte es sich fest vorgenommen, und nichts in der Welt konnte ihn davon abhalten.
Diesmal griff er in seine Außentasche und holte eine Plastikhülle heraus.
Sie war nicht leer. In ihr steckte der Ausschnitt einer Zeitung. Was dort geschrieben worden war, interessierte ihn weniger. Viel wichtiger war das Bild.
Es zeigte einen Mann.
Der Künstler summte eine Melodie vor sich hin, bevor er das Bild unter dem Blutstreifen am Kinn der Toten drapierte.
»Ja, das ist gut«, flüsterte er und nickte. »Das ist sogar sehr gut.« Er rieb seine Hände. »Wenn das nicht etwas in Bewegung setzt, glaube ich nichts mehr.«
Nach einmal schaute er sich das Bild an. Es war wirklich nicht viel zu sehen. Eigentlich nur ein Mann, der direkt, aber etwas unwillig in die Kamera schaute.
Das Foto war nicht in Deutschland aufgenommen worden, sondern in England.
Genauer gesagt in London…
***
Harry Stahl, der Mann vom BKA, der mit Sonderaufgaben betreut war, ignorierte das Weinen einer in der Nähe stehenden Frau und schritt vorbei
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