1647 - Engelstadt - Höllenstadt
fassten nach ihren Schultern.
»Warte«, flüsterte die Stimme. »Ich möchte, dass du dich hinsetzt. Es kann nicht sein, dass du hier auf der Erde liegst.«
»Mein Kopf…«
Endlich hatte sie erste Worte gesprochen, jedoch mit einer Stimme, die Carlotta selbst fremd vorkam.
»Ja, ja, ich bin vorsichtig. Du musst keine Angst haben. Das kriegen wir hin.«
»Danke.« Carlotta fühlte sich beruhigt, denn jetzt wusste sie, dass Livia zu ihr gesprochen hatte. Und ihr vertraute sie.
Ab jetzt fühlte sie sich auch nicht mehr so allein und hilflos. Hände schoben sich in ihre Achselhöhlen, dann wurde ihr Oberkörper leicht angehoben und über einen glatten Boden auf die Seite gezogen. Dabei hielten sich die Schmerzen in Carlottas Kopf in Grenzen. Erst als sie in eine Sitzhaltung gerückt wurde, spürte sie wieder die Stiche und stöhnte auf.
Hände streichelten ihre Wangen. »Du musst keine Angst haben, das geht vorbei.«
»Ja, ich weiß.«
Livia sprach weiter. »Wichtig ist, dass sie uns vorerst in Ruhe lassen.«
Carlotta hatte alles gehört. Sie wollte antworten, nur fielen ihr die richtigen Worte nicht ein. Sie wusste allerdings, dass sie sich nicht frei bewegen konnten. Zwar waren sie nicht gefesselt, doch aus Erfahrung wusste sie, dass sie sich in Gefangenschaft befand.
Noch immer hatte sie den Schlag gegen den Kopf nicht verkraftet. Zu heftig durfte sie ihn nicht bewegen. Aber zumindest war ihr Blick klarer geworden, denn als sie nach vorn schaute, sah sie Livia vor sich hocken.
Und sie entdeckte hinter ihr die hellen Steinwände eines Raumes oder Verlieses, in dem es sogar ein Fenster gab. Gesichert wurde es durch ein Gitter. Es war groß genug, um genügend Licht in den Raum fallen zu lassen.
Auch ihre anderen Sinne spielten jetzt wieder mit, und Carlotta fiel ein bestimmter Geruch auf, den sie noch in ihrer Erinnerung hatte, denn der war ihr kurz vor der Entführung aufgefallen.
Eklig. Widerlich. Nach Verwesung, mit einem süßlichen Geschmack versehen.
Auch Livia wurde wieder klarer. Ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen, was Carlotta nicht begreifen konnte. Sie fühlte sich so matt, so ausgelaugt. Livia erging es bestimmt nicht viel anders. Dass sie dabei lächeln konnte, wunderte Carlotta schon, und sie wollte unbedingt den Grund wissen.
»Worüber freust du dich denn so?«
»Das kann ich dir sagen, Carlotta. Ich bin froh, dass ich noch am Leben bin.«
»Aha.«
»Ja, das ist ganz und gar nicht natürlich.«
»Gut, ich nehme es hin. Du kennst dich wohl aus. Kannst du mir denn auch sagen, wo wir hier sind?«
»Ja, in der Engelstadt.«
»Soll ich das glauben? Hast du nicht auch von einer Höllenstadt gesprochen?«
»Das habe ich.«
»Dann bin ich also auch in der Höllenstadt?«
»Kann man so sagen.«
»Und wen finde ich hier? Wenn es eine Stadt ist, dann muss sie bewohnt sein. Ob bei diesem Namen Menschen darin leben, kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ja, kläre mich auf.«
»Nein, nein, es sind keine Menschen.«
»Und was sind sie dann?«
»Eigentlich nennen sie sich Engel.«
»Und uneigentlich?«
»Es sind Verfluchte. Es waren mal Engel, aber dann sind sie verflucht worden. Ihnen haftet der Geruch des Vergehens und der Verwesung an. Deshalb ist es schwer für sie, sich zwischen den normalen Menschen zu bewegen. Sie haben hier ihre Stadt. Es ist ein Rundbau mit hohen Mauern, hinter denen sie sich wohl fühlen. Hin und wieder unternehmen sie Ausflüge und rauben Menschen.«
»Was geschieht dann mit ihnen?«
»Sie werden in die Arena geschleppt. Dort müssen sie dann um ihr Leben kämpfen.«
Carlotta hatte genau zugehört. Und sie war keine dumme Person.
Während ihrer Zeit bei Maxine Wells hatte sie sich schlau gemacht und immer viel gelesen. So wusste sie über einige Gebiete Bescheid, und sie hatte die Erklärung genau verstanden.
»Moment mal. Eine Arena. Wie im alten Rom, als dort die Gladiatoren um ihr Leben kämpfen mussten und Raubtiere als Gegner hatten, ebenso wie normale Menschen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber das hat es gegeben!«, erklärte das Vogelmädchen mit drängender Stimme. »Das ist Geschichte. Das wurde dokumentiert. Und wenn uns hier etwas Ähnliches passieren soll, können wir das nicht so stehen lassen. Dagegen müssen wir etwas tun.«
»Und was?«
»Fliehen, Livia. Wir müssen hier raus.« Carlotta wollte aufstehen.
Es blieb beim Versuch. Sie kam kaum hoch, denn da zuckten erneut Schmerzen wie Stiche durch ihren Kopf. Mit einem leisen
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