1648 - Die Spiegelgeborenen
empfinden, anderen notleidenden Wesen zu helfen. Sie entwickelten in der Folge einen untrüglichen Spürsinn für Leute, die ihrer Hilfe bedurften.
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Es war eine eigene Freude, anderen zu helfen. Vielleicht versuchten sie auf diese Weise, ihre eigenen Probleme zu verdrängen. Aber immerhin kam dabei ein guter Zweck heraus.
Zuerst war es nur ein Spiel. Wenn sie durch Sol-Town bummelten, dann gewöhnten sie es sich an, die Leute zu beobachten und in von ihnen erstellte Kategorien und Skalen einzuordnen. Dabei stellten sie fest, daß sie es spürten, wenn sich jemand in seelischer Not befand. Danach war es nur noch ein kleiner Schritt zur Selbstüberwindung, den Betroffenen anzusprechen und ihm Hilfe anzubieten.
Viele Nöte der so Angesprochenen ließen sich finanziell, durch ein kleines Almosen oder auch eine größere Summe, beseitigen. Mila und Nadja spendeten gerne, denn Geld bedeutete ihnen wenig. Sie besaßen nicht viel, aber sie brauchten auch nicht viel Geld. Aber auch in Fällen, wo persönliches Engagement erforderlich war, hatten sie keine Scheu, sich zur Verfügung zu stellen.
Es war seltsam, daß sie für sich selbst jeden Kontakt mit anderen tunlichst vermieden, es ihnen aber leichtfiel, sich für andere einzusetzen. Vielleicht, so philosophierte Mila einmal, kam dies aus dem unterschwelligen Wunsch heraus, daß sich jemand fände, der ihnen die eigene Bürde zu tragen half.
Es kam auch immer öfter vor, daß sie Wohnungslosen, Flüchtlingen und solchen, die aus irgendwelchen Gründen nicht mehr ein noch aus wußten, in ihrem Haus Asyl anboten. Einmal wohnten sie mit acht Fremden unter einem Dach. Sie fragten ihre Gäste nie nach den Gründen für ihre mißliche Lage, verlangten von ihnen auch keinen Leumund.
Trotzdem hatten sie ihre Hilfestellung nie zu bereuen, kam es im Zusammenhang mit ihren Hilfsdiensten nie zu unliebsamen Vorkommnissen. Sie konnten sich bei der Wahl ihrer Schützlinge blind auf ihr Gefühl verlassen.
Die Zwillinge wurden nur ein einziges Mal enttäuscht, und dies auch auf eine andere als die soeben beschriebene Art.
Sie waren wieder einmal durch Sol-Town unterwegs und spielten ihr Spiel von Beobachtung und Taxierung. Es war Nadja, der der kleine Mann mit dem unordentlichen Haar als erster auffiel und die ihre Schwester auf ihn aufmerksam machte. „Was für einen verlorenen Eindruck er macht", meinte Nadja. „Er wirkt verwirrt und orientierungslos. Gehetzt eigentlich."
„Aber seltsam - man kann ihn nicht einstufen. Ich habe keine Empfindung, muß mich einzig und allein auf den optischen Eindruck verlassen."
„Mir geht es ebenso - zum erstenmal im Leben."
„Ich bin dennoch überzeugt, daß er Hilfe braucht."
„Gewähren wir sie ihm."
Sie sprachen den Fremden an, und es entspann sich ein etwas verworrener Dialog, dessen Ursache damit zu begründen war, daß „Felix" offenbar an Amnesie litt. Ob Felix sein richtiger Name war, kam nie heraus. Aber er ließ sich bereitwillig so nennen und war über die Maßen erleichtert, als ihm die Schwestern Quartier in ihrem Haus anboten.
Felix war ein angenehmer Gast, unauffällig, höflich und diskret. Aber auch voller Geheimnise. Mila und Nadja rätselten darüber, daß sie von ihm keinerlei Impulse empfingen.
Felix war diesbezüglich ein einziges großes Fragezeichen, ein wandelndes Rätsel.
Sie konnten sich über ihn nicht klarwerden, ihn in keine Kategorie einordnen, sich kein Urteil über ihn bilden. „Ob er ein Roboter, ein Androide ist?" mutmaßte Nadja nicht ganz ernst. „Da würde ich schon eher sagen, daß er uns sehr ähnlich ist", erwiderte Mila. „Daß er die Fähigkeit hat, sich vor uns abzukapseln, oder daß er seine Gefühle unbewußt abschirmt."
„Das mag eher hinkommen."
Und dann war Felix eines Tages verschwunden. Ohne Gruß, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Er war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Die Zwillinge rätselten darüber, was der Grund für sein Verschwinden sein könnte, und fragten sich, was sie falsch gemacht haben könnten. Sie suchten in solchen Fällen immer zuerst die Schuld bei sich.
Sie kamen nicht dahinter, was mit Felix los gewesen sein könnte. Ihr Leben wurde danach wieder eintöniger, denn sie hatten Felix in ihr Herz geschlossen.
Aber sicher war die Enttäuschung über sein lautloses Verschwinden nicht der alleinige Grund dafür, daß sie sich wieder mehr abzukapseln begannen, das Haus leer blieb und sie es nun wieder immer seltener verließen. „Solche
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