1648 - Die Spiegelgeborenen
sie taufte das Unbeschreibliche auf Phantasienamen ohne Sinn, alles Synonyme des Entsetzens. Und diese Fratzen und Synonyme des Schreckens verfolgten sie ihre ganze Kindheit hindurch.
An das, was ihr mit knapp 13 Jahren widerfuhr, als sich Nadja nachts heimlich mit diesem Bob traf und von diesem über die „Toleranzgrenze" gelockt worden war, erinnerte sich Mila dagegen in allen Einzelheiten.
Sie hatte tief geschlafen und davon geträumt, wie ihr Nadja die Hand entzog, immer wieder, eine ewige Wiederholung dieser Szene, bis Nadja auf einmal endgültig entschwand und Mila in einem haltlosen Nebel zurückließ. Da wachte sie in dem Bewußtsein auf, daß die Schwester sie verlassen und allein zurückgelassen hatte.
Mila wußte, daß sie noch in ihrem Schlafzimmer war, aber als sie die Augen öffnete, erkannte sie nichts wieder. Dort, wo der Schrank hätte sein sollen, befand sich ein schieferartiges, aus dem Winkel geratenes Gebilde, das mit einem nach allen Seiten hin endlosen Wall verschmolzen war. Sie wußte, daß das Fenster offenstand, aber in dieser Richtung zeigte sich ihr nicht der gewohnte Ausblick. Eine zähflüssige amorphe Masse, die mit quallenartigen Bewegungen auf sie zuwallte, versperrte ihr die Sicht, versuchte sie zu verschlingen.
Mila wollte daraufhin durch die Tür auf den Korridor fliehen. Aber da war weder eine Tür, noch gab es dahinter den Korridor mit dem Treppenhaus. Ihr bot sich ein unentwirrbares Labyrinth an abstrakten Formen und düsteren Farben dar, ein Dschungel aus allen möglichen asymmetrischen geometrischen Gebilden. Sie sagte sich, daß dies alles nicht die Realität sei, und versuchte, sich durch das Gewirr von Verstrebungen einen Weg zu bahnen und die dabei hinderlichen Sperren zu überwinden.
Das verursachte ihr jedoch unglaubliche körperliche Schmerzen. Es tat so weh, daß sie nicht mehr klar denken konnte, soweit ihr das überhaupt noch möglich war.
In ihrer Verzweiflung und um sich für Nadjas Verrat zu rächen, es ihr heimzuzahlen, daß sie sie verlassen hatte, sprang sie einfach hinein in diese bizarre Welt. Sollte Nadja sehen, wie sie allein zurechtkam, wenn ihre Schwester hinter den Spiegel gelangte und nicht mehr von der anderen Seite zurückkehren konnte!
Mila landete im Nichts. Es raubte ihr den Atem, erdrückte ihren Körper mit Pumpbewegungen, immer stärker, drohte sie zu zerquetschen. Mila glaubte, daß sie nun in der Spiegelwelt gefangen war, in der zweiten Dimension ohne räumliche Ausdehnung, wo alles flach und unbelebt war und ihr Körper auf weniger als eine hauchdünne Folie reduziert wurde. Es war ein progressiver Prozeß, der erst enden würde, wenn sie an die hier herrschenden Gesetze angepaßt war...
Mila fühlte sich danach, als endlich Nadja wie ein rettender Schutzengel erschien, so leblos und zerstückelt wie ein zerbrochener Spiegel, aber auch so gepeinigt wie ein zerstückelter Wurm. Die Regenerierung und Metamorphose zurück zu einem Ganzen war dagegen ein Akt der Gnade. Mila verschlief ihre schmerzvolle Wiedergeburt dank Nadjas Beistand, die an ihrem Lager wachte.
Erst Tage danach berichtete Mila der Schwester von den ausgestandenen Qualen während der minutenlangen und doch wie eine Ewigkeit anmutenden Trennung. Nadja schlug daraufhin ein Experiment vor.
Auf dem Speicher gab es einen uralten Spiegel, ein zerbrechliches antikes Sammlerstück, das die Großmutter hinterlassen hatte. Vor diesem Spiegel postierten sich die Zwillinge. Nadja verlangte, daß sie beide versuchen sollten, ihre Blicke gemeinsam durch ihre Spiegelbilder gleiten zu lassen und in die Welt dahinter zu richten. „Dieser Spiegel ist viele Jahrhunderte und Jahrtausende alt", hatte Nadja beschwörend gesagt. „Stell dir vor, was er schon alles gesehen hat, Schwester! Und daß er all diese Szenen über Leben und Tod, Freude und Schmerz, die ganze Tragik von unzähligen gelebten Leben in sich eingefangen und gespeichert hat. Das ist die Welt, die dich und mich bedroht. Zerstören wir sie!"
Und mit einem einzigen Schlag hatte Nadja den Spiegel in tausend Splitter aufgehen lassen.
Geholfen hatte ihnen dieses Ritual nichts, ihre Situation blieb unverändert, das bewies ihnen ein anderes Experiment, das sie in den folgenden Tagen versuchten.
Es war wiederum Nadja, die vorschlug, daß sie sich auf freiem Feld immer weiter voneinander entfernen sollten, bis über die Toleranzgrenze hinaus, um so festzustellen, ob Mila sich endgültig von der Spiegelwelt befreit hatte. Doch
Weitere Kostenlose Bücher