165 - Am heiligen Berg
Handrücken über die Stirn, als plötzlich etwas zu Boden schlug. Pferde wieherten, jemand schrie. Aruula ruckte hoch.
»Yinjo!«, sagte sie erschrocken und griff nach dem Schwert.
***
August 2007
Der Ritt nach Shinghana war ein Wagnis. Kumar musste damit rechnen, dass der Hubschrauber vor ihm eintraf und er Mullock verpassen würde. Trotzdem wollte er es versuchen. Er konnte den Texaner immer noch am Fuße des Kailash wieder einholen, aber Raj hatte schon Recht: Einen Mann zu töten im Angesicht des Berges, den Buddha selbst als das von Göttern bewohnte Zentrum der Mittelerde definiert hatte, war nicht gut.
Raj ist ein weiser Lehrer! dachte Kumar, während er unter den misstrauischen Blicken zweier Soldaten der Volksbefreiungsarmee durch die Straßen ritt, sein Gewehr auf der abgewandten Seite des Pferdes haltend. Die Chinesen kontrollierten gerade eine Reisegruppe, die sich anscheinend zu intensiv mit Einheimischen unterhalten hatte. Das war nicht erwünscht, und es gab ein ziemliches Palaver. Einer der Touristen machte den Fehler, mit einem Anruf bei seiner Botschaft zu drohen. Daraufhin wurde die ganze Gruppe abgeführt, und Kumar konnte ungehindert passieren.
Er war auf einem trittsicheren Hochlandpony unterwegs, das keine Probleme mit dem Gelände hatte. Zuverlässig galoppierte es dahin – hügelauf, hügelab, über Geröll und durch tiefe Pfützen. Kumar brauchte nur die Zügel halten, sonst nichts. So blieb ihm alle Zeit der Welt zum Nachdenken – und genau das hatte Raj vorausgesehen.
Nutze den Weg der vor dir liegt, zur Suche nach Erleuchtung, hatte er gesagt.
Kumar war überzeugt davon, dass ihn nichts und niemand von seinem Vorhaben abbringen könnte. Trotzdem wanderten seine Gedanken davon.
Es lag an der Landschaft – dieser einmaligen Landschaft der tibetischen Hochebene mit ihrer Weite, der Stille und dem Licht. Wenn die Wolkendecke aufbrach, flammten spektakuläre Goldkaskaden über die Gipfel der Schneeberge, die so fern waren und doch so magisch anziehend. Sanft umeinander fließende Hänge von unterschiedlichem Grün säumten das Geröll der Ebene mit seinen Gebetsfahnen und den einsamen Türmchen aus mani-Steinen (flache Steine, in die Gebete eingemeißelt sind). Yakherden zogen ohne Eile vorbei, und im Gras am Fuße der Hügel spielten die Wollhasen.
Auf diesem Boden ist so viel Blut vergossen worden! Kumar presste die Lippen zusammen. Er hatte sein Gewehr umgehängt, und das Gewicht kam ihm plötzlich seltsam drückend vor. Wird es mir je möglich sein, meine Dämonen an der Klosterpforte abzulegen und sie als freier Mann zu durchschreiten?
Wind kam auf, und es begann zu regnen. Kumar merkte es kaum. Er war in einer Erinnerung gefangen, die ihn schon unzählige Male gequält hatte, und er fragte sich: Was ist es, das mich treibt? Wil ich Gerechtigkeit für Tibet – oder Rache für Tashilunpo?
Seit Kumar mit zwölf Jahren als einziger Überlebender nach Barkha kam, hatte er versucht, die blutigen Schrecken der Kulturrevolution hinter sich zu lassen und seinen Frieden zu finden, doch es war ihm nie gelungen. Tashilunpo war sein erstes Zuhause gewesen und die Mönche dort seine Familie. Mitzuerleben, wie sie schweigend unter den endlosen Schikanen der Chinesen litten, bis sie an der eigenen Sanftmut zu ersticken drohten und sich auflehnten – was sie mit dem Leben bezahlten –, war unerträglich gewesen. Sein Lehrer hatte Kumar damals vor den Soldaten versteckt und ihm zugeraunt: »Vergiss nicht, mein Junge: Das Einzige, was sie dir niemals nehmen können, ist Wissen.« Und Kumar hatte nicht vergessen. Als er alles gelernt hatte, was Raj ihm beibringen konnte, war er auf die Suche nach anderen Quellen gegangen. Irgendwann waren die Klostermauern zu eng für ihn geworden, und er hatte sich einer Untergrundbewegung angeschlossen. Sie verhalf drangsalierten Mönchen zur Flucht, unterstützte die Familien inhaftierter Bauern und versorgte Exiltibeter in Ne'pa mit Nachrichten und Hilfsgütern.
Kumar reiste oft nach Ne'pa; über die Berge, auf dem Trail der Salznomaden. Seine Freundschaft zu diesen Menschen währte schon ein Leben lang und hatte ihm so manchen wichtigen Kontakt erschlossen. Niemand kannte den Markt von Kathmandu besser als die tibetischen Nomaden – und keiner außer ihnen hätte Kumar je auf dessen Geheimnis hingewiesen: Unter dem lauten, bunten Durcheinander von Gewürzständen, Tuchverkäufern und Viehhändlern verbarg sich noch ein Umschlagplatz der anderen
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