165 - Am heiligen Berg
Dreckspritzer begleiteten den Mann in die Tiefe. Auf den ersten Metern wuchs noch Gesträuch, nach dem er verzweifelt griff. Doch die Zweige waren dünn und zerknickten. Ein Blätterregen folgte Kumars Körper, der von Felskante zu Felskante stürzte. Als sie ihn einholten, landeten sie auf zerrissenem Stoff und in Blut.
Kumar stöhnte. Er spürte seine Beine nicht mehr und wusste, dass er verloren war. Niemand würde nach ihm suchen in dieser Felsentasche. Man würde ihn auch nicht zufällig entdecken, denn die Mönche benutzten die ferne Treppe, nicht den Pfad.
Eiseskälte waberte durch die Tiefe. Kumars Kleidung knisterte von bereits gefrorenem Blut, als er den Arm hob, um sich über die schmerzende Stirn zu streichen. Er ahnte, dass er Mullock verfehlt hatte. Irgendwie fühlte er sich erleichtert, aber gleichzeitig quälte ihn auch das bittere Gefühl, versagt zu haben. Es ging nicht darum, den Kailash vor Seilen und Kletterhaken zu schützen. Man könnte auch die Klagemauer mit Graffiti beschmieren, das würde sie überstehen. Aber ihre Wirkung auf die Menschen wäre eine andere – denn mit ihrer Unversehrtheit würde sie die Macht verlieren, Hoffnung zu vermitteln. Darum ging es. Um Hoffnung. Nichts anderes.
Kumar war bereit gewesen, einen Mord auf seine Seele zu nehmen für diese Hoffnung. Nun lag er geschlagen in einem eisigen Grab – weil sein bester Freund versucht hatte, ihn zu retten. Kumar lachte unter Tränen. Es war so grotesk.
Er sah zum Himmel auf, diesem strahlenden Blau über dem unerreichbaren Rand des Abgrundes. Plötzlich schob sich etwas Dunkles in Sicht. Kumars Hand fiel herunter. Sie landete auf dem kalten Metall seiner Waffe, und er packte instinktiv zu: Über ihm schwebte der Militärhubschrauber!
Mullocks uniformierter Begleiter hing halb aus der Maschine, hielt sich mit einer Hand fest und zielte mit der anderen nach unten.
Im Lärm der Rotoren blitzte etwas, wieder und wieder.
Die ersten Schüsse trafen Kumars Beine. Er spürte keinen Schmerz, aber er sah den Gesichtsausdruck des Chinesen und wusste, dass dies eine Hinrichtung war. Mühsam zog er seine Waffe an sich. Eine Revolverkugel traf ihn in den Unterleib. Kumar bäumte sich auf, schrie und versuchte zu entkommen, doch es ging nicht. Angst und Schmerz überwältigten ihn, das Gewehr entglitt ihm und fiel auf seine Brust. Neben Kumar peitschte ein Treffer in den Boden.
Steine spritzten hoch. Sie schrammten ihm über den Kopf, und es gab keinen Zweifel, dass der nächste Schuss ihn töten würde.
Der Hubschrauber zog ein Stück vor, bis er den ganzen sichtbaren Himmel bedeckte. Kumar nahm alle Kraft zusammen. Er stemmte das Gewehr hoch, hielt es senkrecht und schoss es leer. Als es klickte, schlug ihm eine Kugel in die Rippen. Kumar tastete keuchend nach dem Ersatzmagazin. Ihm war so kalt, so schrecklich kalt, und er wollte so gerne ausruhen. Doch er durfte nicht – noch nicht –, wegen der Menschen, die ihm wichtig waren.
Buddhas heiliger Berg musste ihnen erhalten bleiben.
»Für Tibet!«, hauchte Kumar sterbend und verschoss seine letzten Patronen. Er hörte noch das Kreischen von Metall an der Felswand. Dann stürzte ein Schatten herunter, und es wurde dunkel.
***
Mai 2522
Aruula hatte eine steile Falte auf der Stirn, als sie auf den Jungen zulief. Yinjo hatte sich eng an das Yakk geschmiegt wie an einen Beschützer, und seine Knie zitterten. Unsicher blickte er auf die beiden Tschinnaks, die nicht weit von ihm entfernt am Boden lagen. Ihre Pferde hatten sich nacheinander aufgebäumt und waren gestürzt. Sie schnaubten.
Mit gezücktem Schwert kam Aruula heran. Sie warf einen hastigen Blick auf den Boden ringsum. Hier musste irgendwo ein verstecktes Hindernis sein!
Dasselbe dachten auch die Tschinnaks. Quong Ho, der Anführer, bückte sich nach seinem Schwert, tippte dem Gefährten auf die Schulter und knurrte: »Wir gehen!«
»Wir machen – was?«, fragte der erstaunt.
»Bist du taub?« Die ohnehin schmalen Augen des Anführers wurden zu Schlitzen. Er zeigte mit einem flüchtigen Schwenk über den Boden auf Aruula. »Hier ist etwas, das man nicht sieht! Und die Frau kann kämpfen! Das ist nicht normal! Deshalb gehen wir jetzt.«
»Und der Junge?«
Quong Ho zuckte die Schultern. »Was interessiert mich der Junge? Er wird sterben, wenn die Frau stirbt. Aber vorher muss ich wissen, ob sie wirklich eine Frau ist und nicht etwa ein Dämon!«
Der andere Tschinnak wich zurück. Er war unruhig, als er mit Blick
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