165 - Am heiligen Berg
erschien ihm trockener als sonst, und er spielte schon mit dem Gedanken, alles auszuspucken. Doch es wäre ein Akt der Geringschätzung gewesen: Raj, der selber nichts besaß, hatte ihm dieses Fleisch geschenkt. Und Raj war sein Freund.
Also würgte er den Brei herunter, sprang vom Pferd und führte das Tier zu einer der seltenen grünen Nischen an der Uferseite des Hügels. Es begann unter den Büschen zu grasen.
Das Motorengeräusch verstärkte sich – und plötzlich tauchte der Hubschrauber auf! Er kam in weitem Bogen heran, auf geringer Flughöhe und vermutlich mit der Order, das Seeufer zu kontrollieren. Kumar ergriff sein Gewehr und spurtete los. In der Nähe stand ein Turm aus mani- Steinen, dort begann der versteckte Pfad.
Angespannt duckte sich der Mann zwischen die Felsen.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und er wagte kaum aufzusehen, während die Militärmaschine langsam an ihm vorbei zog. Hatten sie ihn entdeckt? Nein, offenbar nicht!
Kumar setzte sich in Bewegung, als der Hubschrauber außer Sicht war. Seine Gebirgserfahrung kam ihm zugute; er lief trittsicher den geröllübersäten Pfad hinauf und schälte unterwegs das Präzisionsgewehr aus dem Futteral.
Ich werde schräg nach unten schießen müssen, dachte er und blinzelte, weil der Himmel einen Moment zu schwanken schien. Ich warte, bis Mullock den Hubschrauber erreicht, und dann…
Kumar brach ab. Er hatte eine gefährliche Stelle an der Westseite des Hügels erreicht und musste sich konzentrieren. Der schmale Pfad führte hier an einer Steilwand entlang. Auf seiner anderen Seite war ein riesiges Nichts – eine Felsentasche, breit und tief genug, um einen Bus darin verschwinden zu lassen.
Mit dem Rücken zur Wand schob sich Kumar vorwärts. Er konnte den Hubschrauber sehen, der mit laufenden Rotoren in der Ebene stand – und er sah auch die Männer, die ein ganzes Stück von ihm entfernt die Treppe am Hang hinunter liefen.
Zu früh, dachte Kumar. Das ist zu früh!
Sein Blick suchte die Felsen ab. Kumar brauchte eine glatte Fläche, um das Gewehr zu positionieren. Er fand sie am Ende des Abgrundes, wo der Pfad wieder zwischen schützendem Randgestein verlief. Dort ragte ein abgeflachter Felsen aus der Tiefe herauf.
Wind zerrte an Kumars Haaren, als er sich ihm näherte.
Unterwegs versagten ihm zwei Mal die Knie. Kumar schrieb es seiner inneren Anspannung zu. Er war kein Heckenschütze. Er war ein Mönch.
In Gedanken ist es leicht, jemanden zu töten. Besonders, wenn man gute Gründe hat. Aber ein geladenes Präzisionsgewehr in Stellung bringen, entsichern, das metallene Zweibein vorklappen und sich mit der Hand am Abzug dem Zielfernrohr nähern, ist eine ganz andere Geschichte.
Ich muss es tun!, dachte Kumar, als Mullock ins Fadenkreuz lief. Der Amerikaner unterhielt sich mit einem uniformierten Chinesen, lachte und schlug ihm auf die Schulter. Ich darf nicht zulassen, dass er unser größtes Heiligtum entweiht!
Kumar tastete nach dem Abzug. Mitten in der Bewegung hielt er inne und hob den Kopf. Etwas war mit seinen Augen nicht in Ordnung: Er hatte Mullock doppelt gesehen!
Als sich Kumar erneut herunter beugte, verfehlte er das Zielfernrohr. Bleierne Müdigkeit hatte ihn erfasst, und seine Gedanken waren plötzlich wie von Watte umgeben. Es kostete Mühe, sie ins klare Bewusstsein zu holen, doch es gelang – und sie brachten eine Erkenntnis mit.
»Raj, was hast du getan?«, stöhnte Kumar. Er wankte, als er auf Mullock anlegte. Der schickte sich bereits an, in den Hubschrauber zu steigen. Eigentlich waren es zwei Mullocks, zumindest in Kumars Fadenkreuz. Er wusste nicht, welcher der Richtige war, deshalb zielte er von links nach rechts. Die Waffe war mit fünf Patronen Kaliber .308 Win bestückt und hatte ein Ersatzmagazin am Vorderschaft, das musste genügen. Kumar zog durch.
Der Knall war ohrenbetäubend, der Rückstoß verheerend. Raj war nicht davon ausgegangen, dass sein Schützling mehr als einen der präparierten Fleischstreifen zu sich nehmen würde. Aber genau das hatte Kumar getan – und damit die dreifache Dosis des Schlafmittels geschluckt.
Er konnte nicht genug Widerstand aufbringen, als ihn die zurückfedernde Waffe traf, und geriet auf dem regennassen Boden ins Rutschen. Das Gewehr entglitt ihm und fiel in den Abgrund. Beim Aufschlag löste sich ein Schuss, und während der Querschläger mit dämonischem Heulen über die Felswände tanzte, brach der aufgeweichte Rand des Pfades unter Kumar weg.
Steine und
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