1655 - Die »Heiligen« von London
weiß auch nicht, woher sie kommen. Ich bin überfragt, was dieses Thema angeht. Ich bin nicht mehr als ein Mitläufer, der nur am Überleben der Institution interessiert ist.«
»Ja, das glaube ich Ihnen. Und dabei war ihnen fast jedes Mittel recht.«
»Sagen Sie nicht so etwas.«
Ich wusste auch nicht, wie ich diesen Menschen einschätzen sollte. Terence Haie dachte nur an seine Aufgabe. Auch jetzt noch, und davon ging er nicht ab. Kein Wort des Bedauerns, kein Satz der Entschuldigung, einfach nichts. Suko, der bisher zugehört hatte, fragte: »Die beiden Killer haben Sie heute also zum ersten Mal gesehen. Oder sehe ich das falsch?«
»Nein, das sehen Sie nicht. Ich kenne sie nicht. Bisher konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass es so etwas gibt.«
»Sagt Ihnen der Begriff Heilige etwas?«
»Sicher. Heilige sind Tote, zu denen man betet. Man kann sie auch als Schutzpatronen ansehen. Wer kennt diesen Begriff nicht?«
»Der Begriff kann auch pervertiert werden.«
»Wieso?«
»Weil sich die beiden Killer als Heilige bezeichnen. Mörder, die zugleich Heilige sind.«
»Das ist verrückt!«, flüsterte Haie.
»Richtig.«
»Ich kenne sie nicht, wirklich nicht.«
Es war mir aufgefallen, dass seine Stimme immer leiser geworden war. Jetzt war sie kaum noch zu verstehen, und als er noch etwas sagen wollte, sackte sie schließlich völlig weg.
Er spielte uns kein Theater vor. Es musste die Wirkung der Tabletten sein, die für diese Müdigkeit verantwortlich war.
»Was machen wir mit ihm, John?«
»Er braucht einen Arzt, der sich um seine Wunden kümmert.«
Ich nickte meinem Freund zu und sagte: »Okay, bleib du hier. Ich werde nach unten gehen und mit der Sekretärin sprechen. Sie kennt sich hier aus.«
»Tu das. Ich warte auf dich.«
***
Greg und Gory hatten das Dach zwar verlassen, aber sie hielten sich noch in der Nähe auf. Es war zwischen ihnen abgemacht worden, dass sie sich die Gegend zuvor anschauten, in der sie agierten. Das war auch hier der Fall gewesen, und so hatten sie gewusst, welchen Fluchtweg sie zu nehmen hatten.
Sie waren auf das Dach eines Nachbargebäudes gesprungen und hatten sich hinter einem kleinen Turm versteckt, der dem einer Kirche ähnelte. Was mit den beiden Verfolgern passiert war, wussten sie nicht. Sie waren ihnen jedenfalls nicht mehr auf den Fersen.
»Es war nicht gut«, flüsterte Greg, »gar nicht gut. Wir haben zum ersten Mal versagt.«
Gory nickte und schaute dabei auf sein Messer. »Aber wer sind sie gewesen?«
»Ich habe gespürt, dass sie gefährlich sind und unsere Aktion stören können.«
»Und was sollen wir tun?«
Im Moment wusste keiner der beiden darauf eine Antwort. Es verging Zeit, bis Gory sagte: »Ich glaube nicht, dass sie die Jagd nach uns aufgeben werden.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Aber ich will sie auch nicht auf geben. Ich will sie tot sehen. Sie sind nicht einfach nur Feinde für mich, sie sind etwas, das zerstört werden muss.«
»Und denkst du auch an Haie?«
»Sicher. Er muss auch verschwinden. Ich habe ihn leider nicht voll erwischen können. Aber wir werden ihn uns holen. Er muss sterben.«
»Wann?«
»Wir sollten nicht zu lange zögern.«
»Willst du wieder zu ihm?«
»Ich glaube, dass er sich wieder in seiner Wohnung befindet. Da werden ihn die Helfer bestimmt hingeschafft haben.«
»Gut. Dann können wir uns ja auf den Weg machen.«
Sie klatschten sich ab. Sekunden später waren sie unterwegs. Zwei Gestalten huschten wie Phantome über das Dach, bereit, ihre Rache zu vollenden.
»Wir sind die Heiligen!«, flüsterte Gory.
»Nein und ja. Wir sind sogar noch mehr. Wir sind die Schutzengel der Kinder, auch wenn wir nicht wie Engel aussehen…«
***
Auf dem Weg zu Gayle Dawson ging mir so einiges durch den Kopf. Meine Gedanken drehten sich besonders um die beiden Gestalten, die man durchaus als Liliputaner bezeichnen konnte.
Wer waren sie? Was waren sie? Wo kamen sie her? Konnte man sie als normale Menschen bezeichnen? Oder waren es Geschöpfe, die zum Reich der Finsternis gehörten?
Jedenfalls waren es Mörder. Das passte zu der Ansicht, dass sie zur anderen Seite gehörten. Aber sie selbst nannten sich Heilige, und der Begriff wiederum passte nicht zu Mördern. Irgendwas lief da durcheinander; und ich setzte darauf, dass wir bald Klarheit bekommen würden.
Noch waren die Heiminsassen nicht zurück, und das sah ich als positiv an. Ich hatte mir gemerkt, aus welcher Richtung Gayle Dawson gekommen war, als wir uns
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