166 - Sohn dreier Welten
Stärke war sein Verstand – und den galt es aufzurüsten. Der Daa'mure übermittelte ihm die höchstmögliche Menge an Wissen, die das noch unreife Gehirn aufnehmen konnte. Dabei musste er aber auch die Psyche des faktisch erst Zweijährigen beachten, denn vieles, das Grao'sil'aanas Wirtskörper nicht einmal ein Schulterzucken entlockt hätte, war für den Jungen unverdaulich. Trotz seiner Besonderheit.
Er war Aruulas Sohn – und er hatte zwei Väter!
Zu dem Zeitpunkt, als sich Commander Matthew Drax mit seiner Barbarin vereint hatte, war sie mit einem Keim infiziert gewesen, den die Daa'muren künstlich erzeugt hatten. Er diente als Träger genmanipulierter Pflanzen-DNS, die in der Lage war, sich eigenständig mit hoch konzentrierter Bioenergie anzureichern und sie zielgerichtet wieder abzugeben. Durch den daraus resultierenden Stromstoß wurden alle menschlichen Zellkerne für die Dauer einer Millisekunde geöffnet, was der pflanzlichen DNS erlaubte, in sie einzudringen. Die Zellkerne schlossen sich danach wieder, und der Fremdkörper konnte mit ihnen verschmelzen.
Ein Wesen war erschaffen worden, das in zwei unterschiedlichen Welten verwurzelt war und im Geist einer dritten, der daa'murischen, aufwachsen sollte. Aruulas Kind.
Der Sohn dreier Welten.
***
»Meine Beine sind unbrauchbar, Grao'sil'aana! Sie knicken dauernd ein!«
(Die Wachstumsphase ist jetzt abgeschlossen. Du musst den Körper bewegen, damit er kräftig wird. Steh auf!)
»Ich will nicht! Mir tut alles weh.« Der Junge sah sich um.
»Wo sind meine Sachen?«
(Sie passen nicht mehr.) Grao'sil'aana hielt seinen schwankenden Schützling fest, bis sich dessen Kreislauf einigermaßen stabilisiert hatte. Er war so verändert!
Duu'da hatte die Durchschnittsgröße zwölfjähriger Primärrassenvertreter erreicht, etwas über einen Meter fünfzig, und von den kindlichen Gesichtszügen der Fünfjährigen war nichts mehrübrig! Die Zartheit seiner inzwischen wieder rosigen Haut war Pickeln gewichen, die Babynase hatte Form angenommen, und anstelle feuchter Kinderlippen bewegte sich nun ein prägnanter Mund.
Allmählich zeigten sich auch elterliche Merkmale: Der Junge hatte das gleiche Grübchen am Kinn wie Matthew Drax – und wer Aruula kannte, den schaute sie aus seinen Augen an.
Diese Ähnlichkeiten blieben Grao'sil'aana verborgen. Als er losging, um dem Jungen neue Kleidung zu holen, fühlte er Zufriedenheit über das äußere Ergebnis der Wachstumsphase.
Insgeheim hoffte er, dass mit dem Entwicklungssprung zum Zwölfjährigen auch die unablässige Fragerei Warum?
Weshalb? Und dann? vorbei sein würde.
Er wurde nicht enttäuscht.
(Dieser Anzug aus Echsenhaut ist ein Geschenk des Sol), sagte Grao'sil'aana beim Überreichen des verschnürten Päckchens. Er klang ungewollt feierlich, als er hinzufügte: (Und nun sollst du auch einen Namen bekommen!) Überrascht sah der Junge auf. »Ich hab schon einen!«
(Du hattest nur ein Wort erfunden! Jetzt erhältst du einen richtigen Namen! Der Sol hat ihn persönlich für dich ausgewählt: Daa'tan.)
Der Junge schüttelte den Kopf. »Gefällt mir nicht. Ich heiße Duu'da.«
Grao'sil'aana war verwirrt. (Du willst eine Gabe des Sol ablehnen und ihr dadurch jeden Nutzen entziehen?)
»Mach ich doch gar nicht! Er kann den Namen ja behalten!«
Grao'sil'aana erschrak. Hatte das Hirn des Jungen gelitten?
War der Datentransfer der letzten vier Wochen zu viel gewesen?
Während sich sein Schützling anzog, führte der Daa'mure an ihm unauffällig einen zerebralen Scan durch. Doch es war nichts zu finden. Das Gehirn war voll funktionsfähig. Also musste der Junge jetzt logischerweise gehorchen.
(Behandle die neue Kleidung pfleglich, Daa'tan!)
»Mein Name ist Duu'da!«, sagte der Junge gereizt und zerrte sich das Hemd über den Kopf. »Ist das irgendwie schwer zu verstehen?«
Grao'sil'aana starrte ihn an wie vom Donner gerührt.
Daa'muren kannten keine Pubertät und keine Trotzphase als Vorläufer derselben: Ihr Nachwuchs durchwanderte nur ruhige Lernphasen auf dem Weg ins Erwachsenendasein.
Vielleicht leidet Daa'tan an einer temporär-partiellen Identitätsstörung, überlegte Grao'sil'aana und nahm sich vor, ihn während der nächsten Tage auf diese Möglichkeit hin zu beobachten. Jetzt aber musste Daa'tan erst einmal mit Nahrung versorgt werden. Er war geschwächt von der langen Fastenzeit, und Grao'sil'aana vermutete, dass das Hunger- und Durstgefühl sich auch auf seine Psyche auswirkte. Deshalb,
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