1661
unter seinen Reiterstiefeln. Er blieb vor einem Schachspiel stehen, das auf einem kleinen Mahagonitisch aufgestellt war, nahm einen der aus Alabaster gefertigten Bauern in die Hand und spielte gedankenverloren damit herum.
»Bei gekrönten Häuptern ist alles möglich … Ludwig XIV. widmet seine Zeit aber lieber den Frauen, der Jagd und der Musik als der Macht. Bisher zumindest. Allerdings hasst er Verschwörer und Verräter. Diese Art der Kostümierung sollten wir also unbedingt vermeiden.«
D’Orbay stellte den Bauern wieder an seinen Platz und kehrte zu seinem Sessel zurück. Im flackernden Kerzenlicht sahen seine feuchten Haare, die im Nacken mit einem Samtband zusammengebunden waren, pechschwarz aus. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine innere Ungeduld zu zügeln. Er holte tief Luft.
»Wir haben keine andere Wahl, meine Brüder. Mazarins Todeskampf lässt uns nicht die Zeit, alles noch einmal genau zu überdenken. Er gebietet uns vielmehr, die Dinge zu beschleunigen.« Seine Stimme wurde nun noch eindringlicher. »Wir dürfen diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sollte das Land dabei in Aufruhr geraten, so dürfen wir uns auf keinen Fall davon mitreißen lassen. Das ist es, was unsere Zusammenkunft erforderlich machte. Verzeiht mir, dass ich vorher keinen von euch ins Vertrauen gezogen habe, aber wir haben schon viel zu oft erlebt, dass unsere Briefe spurlosverschwanden und unsere Codes entschlüsselt wurden, als dass wir eine so wichtige Neuigkeit noch einmal Boten anvertrauen wollten.«
D’Orbay setzte sich wieder in seinen Sessel, faltete für einen Augenblick die Hände und legte sie dann ruhig auf seine Oberschenkel. Dabei studierte er die ihm zugewandten Gesichter und versuchte die Gedanken seiner Gefährten zu ergründen. Durch eine Flügeltür, die ein weiterer Vorhang verhüllte, kam unterdessen ein Diener mit einem Tablett herein und servierte jedem mit einer leichten Verbeugung ein Glas Wein. D’Orbay sah ihm nach, wie er den Raum verließ, und wandte sich dann wieder den sechs um ihn versammelten Männern zu. Also dann, dachte er und holte tief Luft, der große Augenblick ist gekommen!
»Meine lieben Brüder, so wie es unsere Regeln vorschreiben, bitte ich euch hiermit um die Erlaubnis, das von unserer Bruderschaft gehütete Geheimnis an einen Ort bringen zu lassen, von wo aus wir handeln können …«
Der Spanier unterbrach ihn erneut: »Das Geheimnis nach Frankreich zu schaffen, ist eine Sache. Doch was passiert, wenn wir nicht rechtzeitig den Schlüssel finden, der uns den Inhalt der Geheimschrift enthüllt? Wir suchen schon so viele Jahre danach. Der Fall England hat uns gezeigt, mit welchen Risiken eine so gewagte Unternehmung verbunden ist. Wäre es nicht besser, die Sache noch so lange aufzuschieben, bis wir den Code gefunden haben?«
Für einen Augenblick trat Schweigen ein. Die Versammelten sahen sich an. Nichts hörte man als das Knistern einer erlöschenden Kerze. Ihr flackernder Schein unterstrich die tiefen Furchen im Gesicht des Großmeisters, ließ ihn noch gebrechlicher wirken. Mit finsterem Blick unterdrückte François d’Orbay eine bissige Bemerkung.
»Meine Brüder, seit über fünfhundert Jahren weiß unsereBruderschaft nun schon um das Geheimnis. Wir besitzen das Manuskript, in dem es verborgen ist. Nur der geheime Code, der uns erlaubt, es der Welt zu offenbaren, ist uns vor fünfzehn Jahren abhanden gekommen, und wir haben ihn bis zum heutigen Tag nicht wiedererlangt. Hätten wir ihn, wären wir in der glücklichen Lage, den König von der Legitimität unseres Handelns überzeugen zu können. Deshalb müssen wir alles daransetzen, diesen Schlüssel wiederzufinden. Deshalb ist es aber auch unabdinglich, das verschlüsselte Manuskript von Rom nach Frankreich zu schaffen.« Seine Stimme nahm eine noch leidenschaftlichere Färbung an. »Aber selbst wenn uns das Glück bei diesem Wettlauf mit der Zeit nicht hold sein sollte, bin ich trotzdem fest davon überzeugt, dass es für uns kein Zurück mehr gibt. Wie ich schon gesagt habe: Eine solche Gelegenheit wird sich uns vielleicht nicht noch einmal bieten. Der König ist noch jung und formbar. Und er ist verunsichert durch den bevorstehenden Verlust seines väterlichen Freundes und Erziehers. Was aber vor allem zählt: Er vertraut der Person, die unsere Sache vertreten soll.« Er hielt einen Moment inne, um zu sehen, ob seine Worte Wirkung zeigten. Die Augen aller waren erwartungsvoll auf ihn
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