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gerichtet. »In all den Jahren haben wir, Schritt für Schritt, die Bedingungen für den Erfolg unserer Mission geschaffen. Es aufzuschieben, wäre eine große Torheit. Glaubt mir, meine Brüder: Nicolas Fouquet wird der Wahrheit zum Sieg verhelfen.«
Im Raum war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. In diesem tiefen Schweigen klang seine nun im feierlichen Ton gestellte Frage wie eine rituelle Formel:
»Habe ich eure Zustimmung, meine Brüder?«
Als hätte er einen stummen Befehl erhalten, erschien in diesem Augenblick ein weiterer Diener, der eine schwarze, mit einer runden Öffnung versehene Holzurne trug. Er stellte sie auf den Tisch und öffnete eine im Sockel verborgene Schublade, der er ein ledernes Säckchen entnahm. Er knotete es auf und schüttete den Inhalt auf ein kleines Silbertablett, über das mit einem dumpfen Geräusch schwarze und weiße Holzkugeln kullerten.
Darauf ging der Diener mit dem Tablett von Sessel zu Sessel, und jeder nahm sich eine schwarze und eine weiße Kugel. Einer nach dem anderen schritt danach zur Urne und warf eine der Kugeln hinein, die er in der Hand verborgen gehalten hatte. Alsdann ließ sich Giacomo Del Sarto die Urne bringen und öffnete sie. Bedächtig holte er eine Kugel nach der anderen heraus und legte sie vor sich mitten auf den Tisch. Schließlich winkte der Großmeister seine Mitbrüder herbei, damit sie das Ergebnis der Wahl selbst betrachten konnten.
Sieben identische weiße Kugeln lagen in einer Linie auf dem Sonnenmosaik.
»Also dann«, murmelte François d’Orbay, »die Entscheidung ist gefallen.«
Paris, Palais Mazarin
Sonntag, 6. Februar, am frühen Vormittag
Seit über zwei Stunden ordnete Toussaint Roze nun schon die vor ihm liegenden Schriftstücke. Mit dem Rücken zum Fenster saß Mazarins Privatsekretär im Privatkabinett des leitenden Ministers vor der mit kunstvollen Intarsien verzierten, heruntergeklappten Schreibplatte des imposanten Sekretärs, der ein großes Stück der Wand einnahm. Mit unverhohlener Neugier hatte Roze dem Geheimmöbel, das einige Jahre zuvor in Mailand eigens für Mazarin angefertigt worden war, soeben eine große, granatfarbene Ledermappe mit dem eingeprägten Wappen des Kardinals entnommen. Nun ertappte er sich dabei, wie er die Qualität des Leders und die Finesse des eisernen Verschlusses bewunderte. Warum nur hat mich Seine Eminenz gebeten, ihm unverzüglich diese Papiere zu bringen?, fragte er sich, während er andächtig über den abgenutzten Rücken der prächtigen Dokumentenmappe strich. Soweit er sich erinnern konnte, hatte der Kardinal seinem ergebenen Diener Roze noch niemals die Erlaubnis erteilt, dieses Möbelstück zu öffnen. Die hartnäckigen Gerüchte über den Kräfteverfall des leitenden Ministers kamen ihm wieder in den Sinn. Ahnte der Kardinal die Nähe des Todes?
An jenem kalten Morgen blieb es in Mazarins Privatgemächern lange ruhig, da der Herr des Hauses um diese Jahreszeit seinen Räumen im Louvre den Vorzug gab. Die Domestikenwaren fast alle außer Haus; entweder waren sie ihrem Herrn gefolgt oder sie hatten Ausgang. Sogar die sonst heftig knisternden Kaminfeuer waren erloschen. Ob es nun die Kälte dieser ersten Februartage war oder der Überdruss, den ihm die langweilige Tätigkeit des Sortierens bereitete: Toussaint Roze lief jedenfalls ein Schauder über den Rücken, bevor er sich wieder an die Arbeit machte.
In die Lektüre der Schriftstücke vertieft, hörte der fleißige Sekretär, der im Laufe der Jahre ein wenig taub geworden war, so auch nicht die Männer, die gerade in das Vestibül von Mazarins Privatgemächern eindrangen. Sie waren zu fünft und trugen lederne Halbmasken und weite schwarze Umhänge. Einer hinter dem anderen schlichen sie nun durch die Halle, nachdem sie lautlos die eichene Flügeltür geschlossen hatten, hinter der eine breite Treppe hinab zur Bibliothek führte.
In seinem Arbeitszimmer im unteren Stockwerk schrieb Etienne Baluze zur selben Zeit die letzten Zeilen des Rechenschaftsberichts über die ersten Wochen seiner Tätigkeit als persönlicher Bibliothekar Seiner Eminenz. Mehrfach hatte ihn das Stimmengewirr, das aus dem angrenzenden Lesesaal zu ihm hereindrang, bei seiner Arbeit unterbrochen. Der junge Historiker hatte sich noch nicht an den Besucherandrang gewöhnt, den die Sonntage mit sich brachten. Verärgert fuhr er sich mit der Hand durch sein dichtes blondes Haar, dem er seinen Erfolg bei den Frauen verdankte und
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