1668 - Wolfsnacht
sprach irgendwelche Worte, die ihr in den Sinn kamen, denn die alten Gebete hatte sie längst vergessen. Zwischendurch musste sie Atem holen. In einer dieser Pausen hörte sie das Geräusch. Plötzlich zog sich in ihrem Innern alles zusammen. Das Geräusch kannte sie, denn erneut bewegte sich der Schlüssel im Schloss der Tür.
Helen wollte sich nicht umdrehen. Sie tat es trotzdem und auch sehr langsam. Ihr Blick fiel auf die Tür.
Sie war nicht mehr geschlossen. Ein Mann hatte das Zimmer betreten, und es war Igor Baranov…
***
Die Geschwister trafen sich auf dem Flur, kurz vor dem Beginn der Treppe. Igor grinste Elena an. »Und? Wie hat sie es aufgenommen?«
»Das kannst du dir doch vorstellen.«
»Sie will nicht.«
»Klar.«
Er grinste noch breiter. »Aber sie wird es müssen. Daran geht kein Weg vorbei.«
»Das habe ich ihr auch gesagt.«
Igor klopfte seiner Schwester auf die Schultern. »Dann werde ich mal zu ihr gehen und mit ihr…«
»Moment noch.«
»Ja, was ist denn?«
»Sei nicht zu brutal.«
»Keine Angst. Aber es muss geschehen.«
»Ist klar.«
Mehr sagte Elena nicht. Sie ließ ihren Bruder gehen und wandte sich in eine andere Richtung. Sie wollte nicht in dieser Etage bleiben. Unten wartete ihr Vater. Mit ihm gab es noch einiges zu besprechen.
Elena hörte ihn, bevor sie ihn sah. Es waren seine Tritte, die als Echos widerhallten. Wenig später sah sie den Weißhaarigen auf- und abgehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet.
Das war keine selbstbewusste Haltung, die der Mann eingenommen hatte. Da kannte sie ihren Vater schon. Er hatte Probleme, und darüber würde er bestimmt mit ihr sprechen wollen.
Boris hatte sie auch gesehen. »Komm her, Tochter. Ich habe mit dir zu reden!«
»Ja, ich weiß.« Sie senkte den Blick und schaute auf die letzten Stufen hinab. Boris Baranov erwartete sie. Er stand da wie ein Richter, der eine Angeklagte noch mal zu sich kommen ließ, um ihr das Urteil zu verkünden.
»Igor ist schon bei ihr«, sagte sie.
»Das ist gut.«
»Aber du siehst nicht sehr erfreut aus, Vater.«
»Das hin ich auch nicht.«
»Warum nicht?«
Er ballte die kräftigen Hände. »Weil wir einen Fehler begangen haben. Einen sehr großen sogar.«
»Und welchen?«
»Das weißt du selbst. Denk an die beiden Männer, die nach der Frau gesucht haben.«
»Ja, sie wurden ausgeschaltet.«
»Aber nicht getötet!«, blaffte der Alte. »Sie waren hier und erkundigten sich nach Helen.«
»Und weiter?«
»Ich habe ihnen natürlich gesagt, dass wir keine Helen kennen und nicht wissen, wovon sie sprechen. Sie zogen wieder ab. Nur traue ich ihnen nicht. Ich habe gespürt, dass sie gefährlich sind. Sie haben etwas an sich, vor dem wir uns in Acht nehmen müssen. Ich weiß nicht genau, was es ist. Aber wir dürfen sie nicht unterschätzen.«
»Ich habe verstanden. Was hast du vor?«
Er nickte ihr zu. »Ich warte diesmal auf deinen Vorschlag, Tochter.«
Elena lächelte. »Ja, das ist eine Aufgabe für mich, Vater. Du brauchst dich nicht zu sorgen. Ich werde mich draußen umschauen, und sollte ich sie sehen, werde ich das tun, was getan werden muss.«
»Danke, das habe ich gehofft.«
Elena umarmte ihren Vater und lief danach mit schnellen Schritten auf die Tür zu…
***
Wir hatten uns von dem Schloss entfernt, waren aber nicht wieder zurück zur Mühle gegangen, weil uns diese Strecke zu einsehbar erschien. Deshalb hatten wir uns für die andere Seite entschieden. Dort hatten wir Deckung gefunden. Wir hockten in einer kleinen Mulde. Gegen Sicht vom Schloss aus schützte uns ein Strauch, an dessen Zweigen bereits das erste Grün zu sehen war. Hier warteten wir zunächst mal. Ob man uns vom Schloss aus verfolgt hatte, zumindest mit Blicken, das wussten wir beide nicht. Wir sahen es ja, aber dort bewegte sich nichts. Weder hinter irgendwelchen Fenstern noch außen.
Wer sich nicht auskannte, der musste davon ausgehen, dass das Schloss nicht bewohnt war.
Aber man hatte uns geöffnet. Ein weißhaariger bärtiger Mann, der wie ein Mensch aussah und nicht wie ein Werwolf. Das jedoch musste nichts heißen. So eine Verwandlung konnte blitzschnell vonstatten gehen.
»Wir werden uns an den Weißhaarigen halten müssen«, sagte ich mit leiser Stimme.
»Nur er kann uns helfen.«
»Aber er will nicht.«
»Ja.«
»Weil er andere Pläne hat.«
Ich widersprach nicht. Daran hatte ich auch gedacht. Aber welche Pläne konnte der Weißhaarige haben? Wir wussten
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