1668 - Wolfsnacht
normalen Welt bereits verschwunden bist. Wir werden auch nicht hier auf dem Schloss bleiben. Wir gehen woanders hin, wo man dich nicht finden kann. Ja, so sieht es aus.«
»Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Das ist unmöglich. Ihr könnt mich doch nicht einfach aus meinem Leben reißen. Nein, das geht nicht. Dazu gebe ich nie meine Einwilligung.«
Elena winkte ab. »Du glaubst gar nicht, was wir alles können. Die Entscheidung ist für uns gefallen. Wir brauchen wieder frisches Blut in unserer Familie, und du bist dafür ideal.«
»Das will ich aber nicht«, protestierte sie.
»Du hast keine andere Wahl. Solltest du dich wehren, wird es schlimm für dich. Wir brauchen frisches Blut, und du brauchst keine Angst zu haben, dass mein Bruder in seiner zweiten Gestalt zu dir kommt. Er wird dich als Mensch besuchen.«
Helen Winter hatte alles gehört. Und immer noch hoffte sie, einen Traum zu erleben. Doch ein Blick auf Elena reichte aus. Da wusste sie, dass es kein Traum war.
»Nein.« Helen krallte sich an der Matratzenkante fest. »Ich kann nicht einfach mit einem Mann ins Bett gehen, den ich nicht mag. Das musst du verstehen, du bist auch eine Frau und…«
Elena winkte scharf ab. »Das sind alles nur lächerliche Kleinigkeiten, Helen. Du musst meinen Bruder nicht lieben, das verlangt niemand von dir. Du musst dich ihm nur hingeben. Mehr verlangen wir nicht. Und ich verspreche dir, dass es dir in den nächsten neun Monaten gut gehen wird. Wir passen auf dich auf. Schließlich sollst du ein gesundes Kind zur Welt bringen.«
Helen saß da wie eine Puppe. Sie schaffte es nicht, eine Antwort zu geben. Sie konnte nur nach vorn und ins Leere schauen, selbst das Atmen fiel ihr schwer. Sie saß da, tat nichts und hatte nicht mal mehr Tränen.
Die Stimme der anderen hörte sie wie aus weiter Ferne, und sie verstand auch nicht, was Elena sagte. Erst als sie dicht vor ihr auftauchte, zuckte Helen zusammen. Elena nahm ihre Hände in die eigenen und hob sie an.
»Ich kann verstehen, was du denkst, doch ich versichere dir, dass dir niemand etwas tun wird. Dafür werden wir sorgen. Unsere Familie hält zusammen.«
Normalerweise hätte Helen etwas geantwortet. Das tat sie in diesem Fall nicht. Es hatte keinen Sinn. Außerdem fühlte sie sich nicht dazu in der Lage.
»Wir sehen uns dann später…«
Helen nickte nicht mal, als Elena zur Tür ging. Wenig später war sie verschwunden. Zurückgelassen hatte sie eine Frau, die mit ihrer Situation nicht mehr zurechtkam. Was sie hier gehört hatte, war einfach nur unglaublich. So etwas konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Sie sollte schwanger werden, und das von einem Wesen, das auf der einen Seite Mensch und auf der anderen eine Bestie war. Davon hatte sie sich selbst überzeugen können.
Das war nicht zu fassen. Der reine Wahnsinn. Dagegen musste etwas getan werden. Was bleibt mir?, dachte sie.
Nichts, gar nichts, ich kann nichts dagegen tun. Ich werde es nicht schaffen, die andere Seite zu überzeugen.
Sie befand sich in der Gewalt einer Werwolf-Familie. Da hatte sie schlechte Karten. Sie spürte, dass Übelkeit in ihr hochstieg.
Alles, was Elena gesagt hatte, entsprach sicher den Tatsachen. Sie glaubte nicht daran, dass die andere Seite bluffte. Da hatten sich die Baranovs einen perfekten Plan ausgedacht, von dem sie nicht mehr abweichen würden. Und sie befand sich als zentrale Person in der Mitte. Was kann ich noch tun?
Allein diese Frage beschäftigte sie. Eine Antwort fand Helen nicht. Ohne Hilfe kam sie hier nicht weg. Da musste schon jemand kommen und sie aus diesem Gefängnis herausholen.
Aber wer?
Sie hatte ihre Hoffnungen auf die beiden Männer gesetzt und musste jetzt einsehen, dass sie es nicht geschafft hatten. Sie waren ebenfalls ausgetrickst worden, und so waren sie für Helen Winter nicht mal nur Erinnerung.
Sie stand auf.
Sie wollte sich wenigstens etwas bewegen und hatte sich kaum von der Matratze gelöst, als sie von einem wahren Schüttelfrost erfasst wurde und zugleich von einem heftigen Zittern in den Knien.
Das war bereits eine Folge der Angst. Sie würde nicht nur bleiben, sie würde sogar stärker werden und sich zu einem reinen Wahnsinn auswachsen, wenn dieser Igor, der Mensch und Wolf zugleich war; kam, um sie zu vergewaltigen. Bei diesem schrecklichen Gedanken zog sich in ihrem Innern alles zusammen. Helen wusste nicht, wann sie zum letzten Mal die Hände gefaltet und gebetet hatte, jetzt erinnerte sie sich wieder daran und
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