1668 - Wolfsnacht
nach rechts, denn von der Seite aus hatte sie das Signal erreicht. Zu sehen war nichts. Hinter dem Gitter gab es keine Bewegung, und der Pfiff konnte auch vom Schloss her abgegeben worden sein. Helen Winter konnte es kaum glauben, dass sich die Bestie nicht mehr um sie kümmerte. Sie hielt den Mund offen. Sie staunte - und sie hörte den zweiten Pfiff. Der reichte aus.
Noch einmal schrak Helen zusammen, als sich die Bestie bewegte. Aber sie huschte nicht mehr auf sie zu. Jetzt hatte sie ein anderes Ziel, und das war das Gitter. Die Gestalt hätte springen können. Sie tat es nicht, sondern packte die Stäbe und hangelte sich mit blitzschnellen Bewegungen an ihnen hoch. Sekunden später hatte sie die andere Seite erreicht und war auch schon verschwunden. Helen blieb allein mitten auf dem Weg zurück. Sie hatte den Kopf leicht gedreht und schaute dorthin, wo die Horrorgestalt über den Zaun geklettert war, ins Leere, und auch ihr Kopf war leer.
Es gab das Untier nicht mehr. Es war nur noch Erinnerung. Es verging einige Zeit, bis Helen aus ihrer Starre erwachte. Da war es bereits völlig dunkel geworden. Sie stand auf der Straße wie jemand, der sich verlaufen hatte und nicht so recht wusste, wohin er gehen sollte.
Und sie merkte, dass sie noch lebte. Das Ein- und Ausatmen wurde ihr wieder bewusst. Sie spürte den kühlen Wind, der eine Gänsehaut auf ihrem Körper hinterließ, und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Ich lebe noch«, flüsterte sie.
Sie legte den Kopf zurück und lachte. Das musste sie einfach tun. Es sorgte für die innere Befreiung. Lachen und Weinen zugleich, das kam alles zusammen, und dann fiel ihr ein, dass sie noch immer die Griffe des Lenkers festhielt. Sie schaute nach unten.
Ihr wurde bewusst, dass sie mit einem Fahrrad unterwegs war. Und plötzlich wusste Helen wieder, was sie zu tun hatte.
Sie schwang sich in den Sattel, nachdem sie das Rad ein paar Meter vorgeschoben hatte. Sie hörte das Summen des Dynamos am Reifen und sah den gelblichen Lichtfleck, der vor ihr über die Straße tanzte.
Sie lachte, sie weinte, sie tat alles gleichzeitig, und sie war so wahnsinnig froh, dass sie die Kälte und den Wind auf der Haut spürte.
Auch wenn sie fror.
Denn Frieren und Schwitzen bedeutete, am Leben zu sein.
Und nur das zählte!
***
Es verschlug mir die Sprache!
An Janes Mitbewohnerin hatte ich nicht mal im Traum gedacht. Jetzt stand sie tatsächlich vor mir und war keine Halluzination.
Justine Cavallo schloss die Tür. Die Schwester blieb draußen. Mochte der Teufel wissen, wie sie es geschafft hatte, die Frau zu überreden. Hoffentlich nicht durch ihre ganz speziellen Mittel.
Ich hatte mich wieder gefangen und fand auch meine Sprache zurück. »Was willst du denn hier?«
Sie warf mir nur einen kalten Bück zu. »Das muss ich dir doch wohl nicht erklären.«
Sie ging gelassen auf Janes Bett zu, ohne sich um mich zu kümmern. Die Vampirin blieb stehen. In ihrer Verkleidung wirkte sie wie ein normaler Mensch. Zudem hielt sie den Mund geschlossen, sodass ihre beiden Vampirzähne nicht zu sehen waren.
Wie eine Mutter, die in großer Sorge um ihr krankes Kind war, beugte sie sich vor und schaute der Detektivin ins Gesicht. Sie streichelte sogar über deren Wange. So zärtlich, wie ich es ihr nie zugetraut hätte. Bei dieser Aktion brach für mich fast eine Welt zusammen.
Ich konnte nichts sagen. Dafür hörte ich Justines Flüstern, ohne allerdings ein Wort verstehen zu können. Sie beugte ihren Kopf noch tiefer, sodass es aussah, als wollte sie die Person im Bett küssen. Das tat sie nicht, sie strich noch mal über Janes Wangen und richtete sich wieder auf.
»Was ist mit ihr?«
Ich hob die Schultern. »Weißt du das nicht?«
»Schon. Aber ich will es von dir wissen.«
»Sie liegt im Koma.«
»Das sehe ich«, zischte sie.
Ich hatte mich noch immer nicht mit ihrem Besuch abgefunden. Deshalb reagierte ich auch so unterkühlt. Eine Vampirin passte nicht hierher, aber ich musste auch zugeben, dass die Cavallo keine normale Blutsaugerin war. Sie hatte sich auf unsere Seite geschlagen und ich musste leider zugeben, dass wir manches Mal froh gewesen waren, dass es so gekommen war. Dennoch hatte ich Probleme, mich damit abzufinden.
»Wer hat das getan?«
Ich winkte ab. »Er lebt nicht mehr. Du musst also nicht die Rächerin spielen.«
»Ich will es trotzdem wissen.«
»Gut. Er hieß Echem und ist jemand gewesen, der sich mit den magischen Kräften des alten
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