1668 - Wolfsnacht
sie erst einen Anfang erlebt hatte und von Glück sagen konnte, dass sie mit dem Leben davongekommen war.
Wer konnte ihr helfen? Wer war vertrauenswürdig genug? Ihr fiel im Moment niemand ein. Zwar mochten die Bewohner die neuen Besitzer des Schlosses überhaupt nicht, aber es stand auch nicht hundertprozentig fest, dass sie etwas mit diesem Vorfall auf dem Weg zu tun hatten. Das waren nur Verdächtigungen, nichts sonst. Wen gab es?
Helen dachte über die Namen aus ihrem Freundeskreis nach. Die meisten lebten nicht hier im Ort, sondern in der unmittelbaren Nähe von London oder in der Stadt. Dort hatte sie zwei Jahre studiert. Medienwissenschaften. Das Studium hatte sie nicht beendet, fühlte sich jedoch gut genug, um sich als Webdesignerin selbstständig zu machen, denn das war ein Job, den sie auch von zu Hause ausüben konnte, denn hier musste sie keine Miete zahlen und hatte aus ihrem Zimmer ein kleines Büro geschaffen. Medial verbunden war sie durch den Computer mit der ganzen Welt. Sie war aus dem Nachbarort gekommen, weil sie dort einen Kunden besucht hatte. Zwei junge Männer hatten ein Team gebildet und sich eine Verkaufsseite für landwirtschaftliche Kleinartikel einrichten lassen.
Die würden ihr auch nicht helfen, und so blieb einfach der Gedanke, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.
Und dort?
Sie lachte in sich hinein. Nein, der Constabler, den sie kannte und der sich ebenfalls auf der Feier befand, würde nur den Kopf schütteln und sie auslachen. Keine normale Polizei.
Wen dann?
Als sie über die Treppe hoch zu ihrem Büro schritt und das helle Licht die Dunkelheit vertrieben hatte, kam ihr die Idee. Keine normale Polizei. Was sie erlebt hatte, war etwas für Scotland Yard.
Genau daran hakte sie sich fest. Wenn die Nacht vorbei war, würde sie dort anrufen, auch wenn sie sich vielleicht lächerlich machte, aber etwas unternehmen musste sie. Als sich der Gedanke gefestigt hatte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit ihrer unheimlichen Begegnung besser…
***
Boris Baranov stand im Schlosshof und spürte den kalten Wind auf seinem Gesicht. Seine Augen funkelten wie von einem kalten Licht erfüllt, als er zum dunklen Himmel schaute, als wollte er dort die Wolken zählen, die nur schwach zu sehen waren. Nichts in seinem Gesicht ließ erkennen, woran er dachte. Es war starr. Sein Haar wuchs sehr lang und verdiente den Namen weiße Mähne.
Es gefiel ihm nicht, dass er hier draußen stehen musste. Es gab keine andere Möglichkeit. Er hatte nach Igor gepfiffen und keine Antwort erhalten. Das kannte er nicht, denn er mochte keinen Ungehorsam. Besonders dann nicht, wenn er aus der eigenen Familie kam.
Baranov wartete auf seinen Sohn. Doch er wusste zugleich, dass er umsonst auf dem Hof stand. Igor würde nicht kommen, er wäre sonst schon längst bei ihm gewesen. Er war seinen eigenen Weg gegangen, und der führte ihn von der Familie weg. Der alte Baranov wusste, dass er dabei war, seinen Sohn zu verlieren. Sein Wort galt nicht mehr, und das machte ihn wütend.
Als er hinter sich die leisen Schrittgeräusche hörte, drehte er sich nicht um. Er wusste auch so, wer da kam, und hörte wenig später eine leise Frauenstimme.
»Es hat keinen Sinn, Vater.«
Der alte Baranov legte den Kopf für einen Moment zurück. Es sah aus, als wollte er ihn schütteln, doch das ließ er bleiben und sagte stattdessen: »Ich fürchte, dass du recht hast, Elena.«
Elena trat neben ihren Vater und schaute gegen sein Profil. »Es ist der Lauf der Zeit. Du bist das Oberhaupt, aber die Kinder werden erwachsen. Sie werden ihren eigenen Weg gehen und…«
»Ja, ja«, unterbrach er sie. »Das weiß ich alles. Es ist noch zu früh, finde ich.«
»Sie sind erwachsen.«
»Das weiß ich.« Ein tiefes Knurren war zu hören. »Aber dir ist auch klar, dass wir nicht mehr zu Hause sind. Wir leben in der Fremde, das ist es, was ich meine. Die Fremde ist keine Heimat, und wir werden schon sehr aufpassen müssen.« Er drehte sich nach rechts, um seine Tochter anzusehen. »Oder bist du anderer Meinung?«
Elena sagte zunächst nichts. Die Blicke ihres Vaters ließen sie nicht los. Boris blickte auf eine junge Frau mit einer dunklen, leicht rötlich schimmernden Haarmähne. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen fiel auf, denn es zeigte eine wilde Schönheit. Dazu zählten auch die Augen, deren Farbe schlecht zu schätzen war. Sie lag irgendwo zwischen einem hellen Gelb und einem dunklen Grün. So war eine interessante
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