1684 - So grausam ist die Angst
nichts. Sie stand da und wartete ab. Sie hätte auch nicht gewusst, was nötig gewesen wäre. Hier lief alles nach anderen Gesetzen ab, zu denen sie keinen Zugang hatte.
Wilder wurden die Bewegungen nicht mehr. Auch der Klang der Trommel hielt sich in Grenzen. Das Klingeln der Schellen ging fast unter, und das musste so sein, weil Uvalde zu einem weiteren Teil seiner Beschwörung überging, denn jetzt war die Zeit reif, um mit der Anderswelt zu kommunizieren.
Er wollte die Geister herholen. Sie mussten sich zeigen. Sie mussten einen Teil der Macht an ihn abgeben, sodass ihm der Blick in die andere Welt gelang.
Es war ein leiser Singsang, der aus dem Mund des Schamanen drang. Rosy hatte ihn nie zuvor in ihrem Leben gehört. Sie war auch nicht in der Lage, etwas damit anzufangen. Dann ging der Singsang über in eine eintönige Melodie.
Die Bewegungen des Schamanen waren nicht erstarrt. Er hatte sie nur reduziert und konzentrierte sich ausschließlich auf seine Beschwörungen.
Er reckte dabei die Hände gegen den dunklen Himmel, als wollte er das Wetterleuchten dirigieren. Er hatte die Augen verdreht, der Mund war nicht geschlossen und ständig produzierte er neue Laute. Mal hörten sie sich bittend an, dann wieder ungeduldig und zornig.
Rosy Mason schaute nur zu. Sie bewegte sich nicht. Irgendwie war sie fasziniert von den Aktivitäten des Mannes. Die Beschwörung hatte jetzt den leiseren Part erreicht, der nicht weniger faszinierend war. Rosy fühlte sich immer wieder angeschaut. Blicke töten nicht, aber sie trafen sie stark, als wollten sie den Grund ihrer Seele ausleuchten.
Dann war es vorbei.
So schnell, dass Rosy davon überrascht wurde. Die Stille kam ihr unnatürlich vor. Sie hörte auch kein Grollen, das sie aus der Ferne erreicht hätte. Es war eine seltsame Stille oder Atmosphäre, die sie umgab.
Er war da, er blieb da. Er starrte sie an und Rosy konnte seinem Blick nicht entkommen. Diese Kraft hatte sie einfach nicht. Sie gab sich ihnen hin und fühlte sich so anders. Als wäre ihr der Wille genommen worden.
Uvalde bewegte sich nicht mehr. Er fixierte Rosy über das Grab hinweg.
Mit leiser Stimme sprach er sie an.
»Wie fühlst du dich?«
Sie hob nur die Schultern.
Uvalde sprach trotzdem weiter. »Ich habe es nur für dich getan, Rosy. Ich habe mich mit der Anderswelt in Verbindung gesetzt, und es ist nicht mal besonders schwer gewesen, weil Tamara noch nicht so weit weg war. Ihre Seele befindet sich erst in der untersten S, und sie ist bereit, das alte Band wieder zu knüpfen.«
Rosy wusste, dass sie eine Antwort geben musste, aber sie sagte erneut nichts und hob nur die Schultern. Das war ihr alles fremd. Es war auch bisher nicht gefährlich gewesen, aber sie wusste sehr gut, dass trotzdem etwas mit ihr geschehen war. Diese Beschwörung hatte sie regelrecht eingefangen. Sie wollte nicht zugeben, dass sie sich geöffnet hatte, aber jetzt sah sie die Welt mit anderen Augen an, und allmählich kam sie wieder zu Atem.
»Was ist mit Tamara?«
»Sie wartet auf dich.«
»Wo?«
Die Lippen des Schamanen verzogen sich zu einem Lächeln. »Nicht weit von hier, in deiner Nähe. Wäre sie menschlich, müsstest du nur deinen Arm ausstrecken, um sie zu erreichen.«
»Nein, das glaube ich nicht. Sie ist tot und sie kann nicht …«
»Wer sagt denn, dass sie tot ist? Wer?«
»Ich bin dabei gewesen, und du warst es auch. Du hast am Grab die Beschwörung durchgeführt. Man hat dich gerufen. Du bist gekommen, um ihr …«
»Ich habe sie begleitet. Nicht ihren Körper, sondern ihren Geist. Mag der Körper auch vergehen, der Geist bleibt bestehen. Ich habe es geschafft, ihre Seele einzufangen. Das war nicht leicht für mich, aber ich habe dabei auch an dich gedacht und an deine Freundschaft.«
Rosy schüttelte den Kopf. Sie wollte das alles nicht glauben. Eine Seele musste frei sein. Sie durfte sich nicht in der Gewalt einer anderen Person befinden. So etwas ging niemals gut. Es konnte nicht sein, dass ein Mensch Gewalt über eine Seele bekam.
Rosy musste zweimal ansetzen, um sprechen zu können.
»Ich kann es nicht nachvollziehen«, flüsterte sie. »Ich lebe, Tamara ist tot, und ich will mit einer Toten nichts zu tun haben. Das sind zwei verschiedene Welten, und das wird auch immer so bleiben.«
»Meinst du?«
»Sonst hätte ich es nicht gesagt.«
Der Schamane lachte leise auf. »Wie kann man sich nur so irren? Alles gehört zusammen. Alles fließt. Alles ist in Bewegung, und manchmal können
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