1684 - So grausam ist die Angst
die Lücken, dass er sich bewegte. Worte wehten nicht zu mir herüber, dafür ein Gesang, wenn mich nicht alles täuschte.
Was da ablief, war zumindest kein normales Begräbnis, und das erweckte meine Neugierde.
Suko hatte gesehen, dass ich woanders stand. Er kam zu mir und fragte leise: »Was ist los?«
Ich sagte es ihm.
Er schaute mich an und schüttelte den Kopf. »Hat sich dein Kreuz tatsächlich bemerkbar gemacht oder hast du dich geirrt?«
»Bestimmt nicht.«
»Und jetzt?«
Ich hob die Schultern und sagte: »Da stimmt was nicht. Auf den Talisman kann ich mich verlassen.«
»Was willst du tun?«
»Ich schaue mich um.«
Suko hatte verstanden. »Wahrscheinlich willst du rüber zu dieser anderen Beerdigung.«
»Genau.«
»Bist du denn sicher, dass du dort den Grund für die Reaktion finden wirst?«
»Nicht hundertprozentig. Aber irgendwo muss ich ja anfangen, und ich weiß, dass ich mich nicht geirrt habe.«
»Gut, dann bleibe ich sicherheitshalber hier, sonst fällt es den Kollegen noch auf.«
»Tu das.« Ich klopfte Suko auf die Schulter und konzentrierte mich auf die Beerdigung gegenüber. Dabei war ich sicher, eine Überraschung zu erleben. Ich ging zudem davon aus, dass wir wieder mit einem Bein in einem neuen Fall standen …
***
Rosy Mason hatte sich vorher nichts ausgemalt und auch nicht daran denken wollten, wie die Beerdigung ablaufen würde. Sie hatte alles auf sich zukommen lassen wollen, um sich dann der Situation entsprechend zu verhalten.
Eltern, Geschwister und sogar noch eine alte Großmutter hatten sie begrüßt. Die Chakows waren keine kleine Familie, man hielt zusammen. Jeder fühlte sich wie das Glied einer Kette, doch die war jetzt durch Tamaras Tod zerrissen worden.
Rosy hätte noch die Chance gehabt, einen letzten Blick auf die Tote im schlichten Sarg zu werfen. Darauf hatte sie verzichtet. Sie wollte ihre Freundin in einem guten Aussehen in Erinnerung behalten und sie nicht anschauen, wie sie nach dem Unfall ausgesehen hatte.
Der Sarg war recht schnell in die Erde gelassen worden. Wenn die Chakows einer christlichen Religion angehört hätten, dann wären jetzt Gebete gesprochen worden. Das tat niemand. Die Menschen umstanden das Grab. Es herrschte das große Schweigen, nur unterbrochen von schnäuzenden Geräuschen oder dem leisen und so verzweifelt klingenden Weinen der nahen Verwandten.
Rosy fand diese Art der Trauer schlimmer als die Reaktionen auf einer normalen Beerdigung.
Niemand ging.
Alle blieben stehen und dachten an die Tote. Auch kam es ihr vor, als würden die Trauernden auf etwas warten, denn ihr fielen die verstohlenen Blicke auf, mit denen sich manche umschauten, als würden sie nach etwas suchen oder auf etwas oder jemanden warten.
Mit leiser Stimme sprach sie einen Cousin an. »Warum stehen wir hier noch?«
»Ach, weißt du das nicht?«
»Nein.«
»Das ist ganz einfach«, flüsterte er, »es wird noch jemand kommen, um die Tote zu segnen.«
»Aha. Der Pope?«
»Nein, Rosy, nicht er. Es ist jemand, der unseren Glauben anführt.«
Das begriff sie nicht, wollte es aber und fragte weiter: »Wer ist es? Kenne ich ihn?«
»Lass dich überraschen.«
Rosy liebte zwar die Überraschungen, in diesem Fall hielt sie wenig davon. Hinzu kam, dass sie wieder an die Ereignisse der vergangenen Nacht denken musste. Die bekam sie einfach nicht aus dem Kopf, und sie konnte sich vorstellen, dass dies noch ein Nachspiel haben würde.
Gegenüber, wo sich ein anderes Gräberfeld befand, sah sie ebenfalls eine Beerdigung. Dort lief alles nach dem normalen Ritus ab, und da hätte sie sich auch wohler gefühlt.
»Er kommt«, sagte jemand.
»Ist es Darco Uvalde?«
»Ja, ich habe ihn schon gesehen.«
»Dann wird alles gut.«
Mutter und Großmutter der Toten hatten miteinander gesprochen. Da Rosy sehr nahe bei den Frauen stand, hatte sie mithören können. Der Name Darco Uvalde sagte ihr nichts. Der war völlig neu für sie, und als die Schritte einer fremden Person aufklangen, da drehte auch sie den Kopf.
Der Ankömmling hatte den Hauptweg verlassen und kam mit schnellen Schritten auf die Gruppe zu. Auch Rosy sah ihn, wollte es nicht glauben, und ein Laut der Überraschung verließ ihren Mund.
Sie kannte diesen Uvalde.
Er hatte in der letzten Nacht vor ihrem Bett gestanden!
***
Rosys Beine gaben nach. Sie hatte Glück, sich bei dem kräftigen Cousin abstützen zu können. Der wurde etwas nach vorn geschoben, drehte den Kopf und fragte: »Ist was mit
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