1684 - So grausam ist die Angst
dir?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur ein wenig unsicher aufgetreten.«
»Dann ist es gut.«
Rosy wusste nicht, ob dieser Darco Uvalde sie gesehen hatte, ging aber davon aus. Nur hatte er es ihr nicht gezeigt. Und er hielt sich auch zum Glück nicht in ihrer Nähe auf.
Viele Gedanken gingen ihr durch Kopf und sorgten für ein regelrechtes Durcheinander. Es war für sie nicht zu begreifen. Wie stand sie jetzt da? Wie sollte sie sich auf diesen Uvalde einstellen? Wer war er wirklich?
Wenn sie an die Nacht dachte, dann sah sie ihn noch immer als Gespenst an. Und jetzt war er stofflich. Er sah aus wie ein normaler Mensch, auch wenn er sich durch sein Aussehen von den anderen abhob.
»Der Schamane wird ihr den Weg ins Jenseits öffnen. Sie muss keine Furcht mehr haben.«
Rosy wusste nicht, wer da gesprochen hatte, aber dieser Satz hatte sie schon gestört. Auf ihrem Rücken spürte sie einen kalten Hauch, und so etwas wie Angst stieg wieder in ihr hoch, obwohl Uvalde sich nicht um sie kümmerte.
Die Menschen waren still geworden. Sie überließen dem Schamanen alles. Er stand dicht neben dem Grab, schaute auf den offenen Sarg und fing damit an, sich zu bewegen. Es war ein langsamer Tanz, nur ein Bewegen seiner Füße, die er anhob und danach wieder auf den Boden stellte. Dabei fing er an zu singen und holte aus seiner Kleidung etwas hervor, das Rosy nicht erkannte.
Aber sie hörte den Gegenstand. Es war eine Rassel, die bestimmte Geräusche hinterließ. Rosy war jetzt neugierig geworden. Sie schob sich zur Seite und sah eine Lücke zwischen den Leuten, durch die sie auch den Schamanen sah, der seine Rassel schwang und das im Rhythmus seiner Bewegungen.
Die Menschen hatten sich bisher nicht gerührt. Das änderte sich nun, denn auch sie fingen an, ihre Beine zu heben.
Sie tanzen mit.
Allerdings nicht wild oder ekstatisch, nein, sie hielten sich genau an die Bewegungen, die ihnen durch den Schamanen vorgegeben wurden. Er bewegte seine Rassel und dann drangen Laute aus seinem Mund, die aus einer alten Sprache stammen mussten, einem russischen oder sibirischen Dialekt, das jedenfalls nahm Rosy an. Sie hatte Tamara zu deren Lebzeiten oft in ihrer Heimatsprache reden hören, und dieser Gesang hier hatte eine gewisse Ähnlichkeit.
Darco Uvalde blieb nicht an einer Stelle stehen. Er bewegte sich jetzt um das Grab herum, zeichnete jeden Zentimeter nach und hatte die Rassel mit einem anderen Instrument vertauscht, das so etwas wie ein übergroßes Ei aus Holz war, an dessen Seiten sich allerdings Löcher befanden, aus denen Wassertropfen spritzten, die auf dem schlichten Sarg landeten und dort Flecken hinterließen.
Auf Rosy Mason achtete niemand. Die Menschen hier hatten sich von Uvalde in seinen Bann ziehen lassen. Er war der Schamane, derjenige, der zwischen dem Diesseits und dem Jenseits vermitteln konnte.
Rosy war alles suspekt, und sie sah ein, dass es besser für sie war, wenn sie sich zurückzog. Sie wollte nicht mehr zuschauen, weil sie sich von Sekunde zu Sekunde unwohler fühlte. Das Blut war ihr in den Kopf gestiegen. Sie kannte die ganze Familie, sie hatten so viel Freude miteinander gehabt, aber diese Beerdigung war ihr schon sehr unheimlich.
Man hatte sie eingeladen, noch mit den Chakows nach Hause zu gehen. Das hatte sie auch angenommen. Jetzt aber dachte sie schon darüber nach, denn die Familie war ihr plötzlich fremd geworden. Sie alle vertrauten dem Schamanen, und Rosy fragte sich, ob auch sie Erfahrungen mit ihm gemacht hatten wie sie.
Dann war alles vorbei!
Das ging so plötzlich, wie es begonnen hatte. Plötzlich lag eine seltsame Stille über der Gruppe. Die gebückten Gestalten richteten sich wieder auf, was auch Darco Uvalde tat. Er überragte alle Anwesenden und schaute dabei in eine bestimmte Richtung.
Durch Rosy Mason schoss ein heißer Strom, denn Uvalde hatte seinen Blick genau auf sie gerichtet. Sie sah die Augen so deutlich, als befänden sie sich nur eine Handbreit vor ihr. Die anderen Leute existierten für ihn nicht mehr.
Rosy wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Sie wollte diesem Menschen – falls er es überhaupt war – nicht länger gegenüberstehen. Sie musste weg.
Rasch drehte sie sich um.
Das war dem Cousin auch aufgefallen.
»Wo willst du denn hin?«
»Weg, erst mal weg. Ich kann einfach nicht mehr. Mich hat das so mitgenommen.«
»Und – ähm, wo treffen wir uns?«
»Am Parkplatz«, erwiderte sie und
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