1690 - Die Schwelle zum Jenseits
Licht drang aus den Wänden, der Decke, war bleich und veränderte seinen Schein ins Bläuliche.
Auf der Bühne geschah nichts. Sie war auch nicht zu sehen, weil der Vorhang nach wie vor geschlossen blieb. Marcia dachte daran, wie sehr sie es sich gewünscht hatte, in diese andere Welt zu schauen, und sie hatte sich immer wieder die Frage gestellt, was sie wohl sehen würde. Natürlich hatte sie an die verstorbenen Großeltern gedacht, an sie vor allen Dingen, weil sie ihre Erziehung zum größten Teil übernommen hatten. Leider waren sie viel zu früh gestorben, und mit ihnen noch mal in Kontakt zu treten wäre für Marcia das Größte gewesen, obwohl sie sich auch davor fürchtete.
Bisher hatte sie innerhalb des Saals keine Bewegung wahrgenommen. Nun änderte sich dies.
Rechts und links der Bühne, wo es dunkler war als sonst, war eine Bewegung zu erkennen. Aus diesem Schatten löste sich jemand. Zwei Personen, von denen Marcia nicht viel sah, weil sie Kutten trugen und ihre Kapuzen über den Kopf gestreift hatten, sodass nur ihre Gesichter freilagen, aber auch die sah sie wegen der Entfernung nicht deutlich.
Die beiden Gestalten gingen einige Schritte vor und blieben in Höhe der Säulen stehen.
Marcia war froh, dass sie nicht zu ihr kamen. Sie ging davon aus, dass dieses Erscheinen der beiden zu dem Ritual gehörte, das bald folgen würde.
Sie fasste sich ein Herz und drehte den Kopf.
Der Glatzkopf stand noch immer an derselben Stelle. Auch er hatte seine Kapuze über den Kopf gestreift, wobei sein Gesicht frei blieb.
Aber er war nicht allein. Es gab noch einen weiteren Mönch und jetzt wusste sie, dass vier Gestalten sie praktisch eingekesselt hatten. An ein Entkommen war nicht mehr zu denken.
Nichts geschah in den nächsten Sekunden, bis sie die Stimme des Glatzkopfes hörte.
»Du kannst noch ein paar Schritte vorgehen.«
»Und dann?«
»Keine Fragen.«
Sie ging vor, holte Luft und fand, dass sie nicht nur klar, sondern auch sehr kühl war. Für die draußen herrschende Wärme war es schwer, die dicken Mauern zu durchdringen.
Wieder verstrich Zeit.
Keine der vier Gestalten suchte den Kontakt zu ihr. Sie blieben stehen, sie rührten sich nicht, sie gaben keinen Laut von sich, und Marcia hörte nur ihren eigenen Atem.
Bis zu dem Augenblick, als sie die schwachen Wellen im Stoff des Vorhangs sah, weil dieser sich bewegte. Für wenige Augenblicke nur, dann teilte er sich und die beiden Hälften glitten nach rechts und links weg.
Marcia hatte freie Sicht auf die Bühne, und sie fragte sich, ob das der Blick ins Jenseits war …
***
Romana Gitti hatte diesen einen kurzen Satz gesagt und danach nichts mehr. Die rechte Hand mit dem Telefon war zudem nach unten gesunken und wir konnten sie nur anstarren, wobei sie selbst nichts mehr sagte, wir aber die Stimme der Anruferin hörten, die wohl nach Romana Gitti rief.
»Was ist denn?«, fragte Bill.
Sie schüttelte den Kopf. Dann hob sie den Hörer wieder an und drückte ihn gegen ihr Ohr.
»Bitte, Signora, reden Sie. Sie sind bei mir richtig. Die Telefonnummer in der Zeitung stimmt.«
Mehr sagte sie vorerst nicht. Sie hörte zu, und die Meldung erschütterte sie tief, das war ihr anzusehen. Das Gesicht verzerrte sich, es wirkte alt, und ihr Atem ging heftig.
»Stimmt das denn auch alles?«
Sie erhielt eine Antwort, die bei ihr ein Nicken auslöste. Danach flüsterte sie: »Können Sie wirklich nicht mehr sagen?«
Romana wartete auf die Antwort. Dann sprach sie einige Worte flüsternd aus und sagte, dass sie sich darum kümmern wollte. Mehrmals wiederholte sie einen Ort, den wir nicht kannten, und schließlich legte sie auf, nachdem sie sich noch mal bedankt hatte.
Jetzt waren Bill und ich mehr als gespannt.
Romana Gitti drehte sich auf ihrem Stuhl um. Sie nahm eine Position ein, aus der sie uns beide anschauen konnte.
Bill konnte seine Neugierde nicht mehr im Zaum halten. »Bitte, wer hat angerufen?«
Romana öffnete den Mund. Wir rechneten mit einer Antwort, doch die brachte sie nicht mehr hervor. Es sah so aus, als würde sie im nächsten Moment zusammenbrechen, aber sie hielt sich auf ihrem Stuhl. Nur schaffte sie es nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten.
Ein gutes Zeichen war dies nicht. Ich ging davon aus, dass sie eine schlechte Nachricht erhalten hatte. Wir ließen sie in Ruhe, und aus der Tasche ihrer Hose holte sie ein Tuch hervor, um sich das Gesicht und die Augen zu trocknen.
Danach atmete sie tief durch und schaffte es, sich
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