1690 - Die Schwelle zum Jenseits
schauen?
Die Gedanken blieben, die Fragen ebenfalls und natürlich der Ärger, der allerdings verflog, als sich einiges änderte.
Plötzlich hörte sie die Stimme!
Es war blitzschnell geschehen. Es hatte keine Vorwarnung gegeben, aber diese drei Worte sorgten bei ihr für eine Veränderung.
»Ich grüße dich.«
Marcia kannte die Stimme. Jetzt wusste sie, dass sie den richtigen Ort erreicht hatte. Die Stimme hatte sie hergelockt, jetzt hörte sie sie wieder, und Marcia fühlte sich beinahe schon heimisch.
Aber sie sah den Sprecher nicht, so sehr sie sich auch bemühte und sich umschaute. Es stand niemand in der Nähe und auch auf der Bühne bewegte sich nichts.
Sie ging davon aus, dass die Stimme aus einem Versteck an ihre Ohren gedrungen war. An die vier Männer, die sie unter Kontrolle hielten, glaubte sie nicht. Nein, sie hatten mit ihr keinen Kontakt aufgenommen. Wer das getan hatte, war ein Mächtiger. Einer, der das Sagen hatte. Sie konnte sich auch vorstellen, dass ihr Gastgeber aus dem Unsichtbaren hervor gesprochen hatte. Sie traute ihm alles zu und wartete nur darauf, dass er sich zeigte.
Nein, es geschah nichts. Nur die vier Wächter blieben auf ihren Plätzen. Sie behielten die Frau und auch die Bühne unter Kontrolle, und Marcia dachte über sich nach und auch darüber, was sie jetzt tun sollte. Sie wusste, dass sie gefordert war, dass es kein Zurück mehr gab, und sie dachte daran, dass sie wahrscheinlich allein auf die Bühne zugehen musste.
»Ja, das ist gut«, flüsterte es in ihrer Umgebung. »Es ist genau richtig. Geh ruhig weiter. Die Bühne wartet auf dich. Du sollst endlich einen Blick ins Jenseits werfen können.«
So recht glaubte Marcia nicht daran. Das Jenseits hatte sie sich bisher nicht als Bühne vorgestellt, auf dem ein Theaterstück lief. So kam es ihr hier vor.
Sie bewegte sich Schritt für Schritt vorwärts. Immer langsam, stets gespannt, bis sie plötzlich stehen blieb, weil sie eine innere Stimme gehört hatte.
Marcia wartete ab. Auf dem blanken Boden zeichnete sich ihr schwaches Spiegelbild ab. Noch war die Bühne leer und auch der Sprecher hatte sich nicht gezeigt.
Aber die Veränderung ließ sich nicht aufhalten. Auf der Bühne passierte es. Zuerst war nur ein schwaches Zittern zu sehen, als hätte sich die Luft bewegt. Dann schob sich etwas von hinten nach vorn, als hätte es sich bisher verborgen gehalten.
Marcia starrte nach vorn. Sie war erregt, ihr Herz schlug schneller und sie wartete darauf, dass ihre Vorstellungen sich verwirklichten.
Sie durfte kaum darüber nachdenken, was sie hier erlebte. Sonst würde sie vor lauter Schwindel den Kontakt mit dem Boden verlieren. Wer bekam schon als normaler Mensch die Möglichkeit, einen Blick in eine völlig andere Sphäre zu werfen?
Das Jenseits baute sich vor ihr auf. Zumindest glaubte sie das. Die Bühne blieb nicht leer. Zuerst fiel ihr das Licht auf, das sich strahlend in alle Richtungen verteilte. Es hob auch die Grenzen dieser seltsamen Bühne auf. Alles war anders geworden. Das Licht empfand Marcia wie eine Botschaft, die nur das Schöne vermittelte, denn es gab keinen Schatten, nur die Helligkeit, die alles übernommen hatte und nicht mal blendete.
Da waren herrliche Blumen auf einem Feld zu sehen. Ein buntes Allerlei verteilte sich auf einem grünen Rasen, und zum ersten Mal verspürte Marcia den Hauch der milden Frühlingsluft, die ihr entgegenwehte. Ja, das musste das Paradies sein. Der ewige Frühling. Das ewige Wohlbefinden. Der Gedanke und das Bild, die Kraft gaben und die Angst vor dem Sterben nahmen.
Es war einfach herrlich, und Marcia wurde von einer Flut von Gefühlen überschwemmt. Es gab nur noch die reine Freude über dieses Bild, nach dem sich jeder Mensch sehnen musste.
Schon jetzt waren Marcias Träume wahr geworden. Das Jenseits hatte für sie den Schrecken verloren. Sie stand an der Schwelle, und ihr war tatsächlich ein Blick hinein vergönnt.
Die Angst vor dem Ende war ihr schon jetzt genommen worden. Es würde später keine Probleme geben. Oder war das Später bereits eingetroffen?
Darauf konnte sie keine Antwort geben. Etwas fehlte noch, das wurde ihr allmählich bewusst, als sie sich nicht mehr so stark durch andere Gedanken ablenken ließ.
Marcia hatte damit gerechnet, auf liebe Menschen zu treffen, die leider zu früh verstorben waren. Mit ihnen wollte sie Kontakt aufnehmen, um ihnen Fragen stellen zu können.
Ihre Großeltern, zum Beispiel. Dann der Vater einer Freundin, der
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