170 - Hüte den Speer - Magiure, Margo
bewahrt.
Erneut sehnte sie sich nach der Wärme und Sicherheit von Carrauntoohil und nach ihren Verwandten und Gefährten. Vier lange Jahre war sie nun schon fern der Heimat, Jahre, in denen sie zu einer jungen Frau herangewachsen war. In all dieser Zeit hatte sie mit kaum einem anderen Menschen gesprochen als mit Onkel Tiarnan. Auf englischem Boden waren sie stets für sich geblieben, hatten alle Siedlungen weitgehend gemieden und waren nur dann in Dörfer gegangen, wenn sie sich mit dem Nötigsten eindecken mussten. Und obgleich Tiarnan ein weiser und wundervoller Mensch war, vermisste Keelin doch schmerzlich die Gesellschaft von jungen Leuten. Eines Tages musste sie sich ein eigenes Leben aufbauen. Sie wollte Ehefrau sein. Und Mutter. Eine Burgherrin mit eigenem Haushalt.
„Was für ein Mann ist er, Keelin?“, fragte Tiarnan und drängte sich mit diesen Worten in ihre Gedanken.
„Wer, Onkel?“
„Der junge Graf“, entgegnete er. „De Grant.“
„Nun, er ist …“, Keelin zögerte, „… er ist groß.“
„Ja, das habe ich mir gedacht.“
„Und meist eher schweigsam“, fügte sie hinzu. „Obgleich er zurzeit dort draußen seinen Männern ständig Befehle erteilt.“
„Ein trefflicher Führer.“
„Ja, ich denke schon, doch ich bezweifle, dass er seine Fähigkeiten bereits unter Beweis stellen konnte“, sagte sie. „Schließlich ist sein Vater, der alte Graf, erst heute gestorben.“
„Das tut nichts zur Sache, Mädchen, entweder hat ein Mann die Fähigkeiten eines Anführers oder nicht“, erwiderte Tiarnan mit Nachdruck. „Wie sieht er aus?“
Keelin zitterte plötzlich und schlang rasch beide Arme um den Körper. Wenn sie Marcus de Grant ansah, musste sie immerfort an die Geschichten aus Kindheitstagen denken, als sie zum ersten Mal von den wild entschlossenen blonden Wikingern aus vergangenen Zeiten gehört hatte. Ja, er hatte angenehme Gesichtszüge, aber am meisten gefiel ihr sein zuvorkommendes Verhalten und seine Schüchternheit, sobald sie ihm zu nahe kam. Trotz seiner Größe und offenkundigen Kraft war Marcus de Grant gewiss kein großspuriger und überheblicher Mensch.
„Nun? Würdest du ihn als gut aussehend bezeichnen?“
Sie seufzte. „Vielleicht könnte man es so ausdrücken, Onkel Tiarnan.“
„Wie meinst du das, Mädchen? Entweder ist er gut aussehend oder nicht. Da gibt es kein Vielleicht.“
Bevor sie ihrem Onkel eine genauere Antwort geben konnte, war plötzlich Adams Stimme zu vernehmen.
„Marcus?“, rief er matt von seinem Strohlager.
Keelin ging zu dem Jungen, der bäuchlings auf der Schlafstatt lag. „Er ist in der Nähe, Adam“, sagte sie und tupfte ihm die Stirn ab. „Brauchst du etwas?“
„Marcus …“, wimmerte der Kleine.
Keelin sah Sir Roger an, der sich in der anderen Ecke der Hütte niedergelassen hatte, und schickte den Ritter auf die Suche nach dem jungen Grafen.
Keelin O’Shea verbarg irgendetwas vor ihm, davon war Marcus felsenfest überzeugt. Doch anstatt diesem Verdacht nachzugehen, vermied er es, erneut ihre Hütte zu betreten.
Sein Mut – und seine wundersame Fähigkeit, frei mit einer so lieblichen Frau zu sprechen – war gesunken, nachdem er ihr den Verband angelegt hatte. Er befürchtete nun, dass er in ihrer Gegenwart keinen zusammenhängenden Satz mehr zu Stande bringen würde. Deshalb hoffte er, dass Adam und die anderen Verwundeten nicht mehr allzu lange an diesem Ort bleiben mussten. Das Zeltlager war zu nahe bei der Bauernkate, und Marcus wusste, dass er Keelin unmöglich aus dem Weg gehen konnte.
Er wünschte in Erfahrung zu bringen, was sie ihm nicht mitgeteilt hatte. Die Geschichte, dass die Mageean-Krieger hinter ihr her waren, glaubte er ihr, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass die Jagd nach der jungen Irin noch einen anderen Grund hatte als eine Familienfehde. Warum nahmen die Söldner der Mageean all die Mühen auf sich, Keelin O’Shea vier Jahre lang nachzujagen?
Fleischeslust ist nicht auszuschließen, dachte Marcus und versuchte seine eigenen begehrlichen Gedanken zu unterdrücken. Keelin O’Shea war ganz gewiss eine Frau, die einen Mann dazu brachte, alles Erdenkliche zu unternehmen, um sie zu bekommen.
Aber wenn es nur um einen allzu aufdringlichen Freier ging, ergab es keinen Sinn, warum die Irin sich darüber ausschwieg. Jede andere Frau hätte ihre missliche Lage geschildert und sich seinem Schutz anvertraut, um dem habgierigen Mageean zu entkommen.
Wenn dieser indes ihr Verlobter war
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