1700 - Hüter der Apokalypse
er den Eindruck, von einer Kraft erfüllt zu werden, wie er sie noch nie erlebt hatte.
Er hielt sein Pferd an. Godwin wollte den Augenblick genießen und ihn auch in die Länge ziehen. Der Himmel hatte sich im Osten geöffnet. Als wäre die Klappe eines Ofens in die Höhe gezogen worden.
Der Himmel nahm eine rote Färbung an. Sie breitete sich immer weiter aus, als würde sich eine dünne Blutschicht immer mehr Raum verschaffen und die Schatten der Nacht endgültig vertreiben.
Plötzlich war auch der Hügel im Licht. Genau darauf hatte der Templer gewartet. Es gab nichts mehr, was seine Sicht beeinträchtigte, und so setzte er zu einem Rundblick an.
Er suchte den Baum!
Bisher hatte Godwin den Hügel nur vom Tal aus gesehen. Nun sah er, dass er größer war, als er angenommen hatte. Auch flacher. Die Spuren der Kreuzigungen durch die Römer hatten die vergangenen Jahrhunderte längst verweht. Jetzt wuchsen hier Sträucher und Krüppelbäume, die allesamt von einer Staubschicht bedeckt waren.
Der Templer glaubte nicht daran, dass er die Felsenbirne nur als Krüppelbaum sehen würde. In all dieser trostlosen Umgebung würde sie hervorstechen, da war er sich sicher. Diesen Glauben konnte ihm niemand nehmen.
Jerome Cassel ritt auf ihn zu und fragte: »Hast du den Baum bereits entdeckt?«
»Nein, aber ich werde nicht aufgeben und mich noch richtig umschauen.«
»Bitte, dann tue es.«
Godwin nickte nur. Er wollte bei seiner Suche allein sein. Das sollte allein sein Erfolg werden. Lange hatte er auf den inneren Trieb gehört, lange hatte er geforscht und er wollte das Erlebnis der Entdeckung nicht mit einer anderen Person teilen.
Er ritt an. Nach Osten. Der Sonne entgegen. Dabei spürte er bereits die ersten warmen Strahlen auf seinem Gesicht. Es war für ihn wie eine Lockung, den Weg fortzusetzen.
Je heller es wurde, umso deutlicher erkannte er seine Umgebung. Und er wusste plötzlich, dass er genau in die richtige Richtung geritten war.
Vor sich sah er einen etwas dichteren Bewuchs. Als befände sich dort eine kleine Oase. Sogar eine grüne Matte zeichnete sich auf dem braun-grauen Untergrund ab. Und diese Matte war so etwas wie ein Mittelpunkt.
Godwin zügelte sein Pferd. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Er wollte sich die Stelle noch genauer anschauen, bevor er auf sie zuritt. Seine innere Stimme sagte ihm, dass er sein Ziel erreicht hatte. Er war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.
Er schlug ein Kreuzzeichen, sprach ein kurzes Gebet, dankte dem Allmächtigen und ritt langsam auf das Grün zu.
Das Bild sah er immer deutlicher, und er sah den Baum, der alle anderen Gewächse überragte.
Sein Herz schlug schneller. Tränen des Glücks traten in seine Augen. In diesem Augenblick erfüllte sich für ihn sein Traum. Er konnte es nicht fassen. Er war von Gefühlen überschwemmt worden, die ihm bisher unbekannt waren. Beinahe kam es ihm vor wie ein Wunder, und das hatte sich ausgerechnet ihm offenbart.
Godwin stieg von seinem Pferd. Als seine Füße den Boden berührten, spürte er das Zittern seiner Beine. Diese Reaktion trat selbst sonst im Kampf selten auf.
Zu Fuß ging er weiter. Den Baum ließ er nicht aus den Augen. Ja, so hatte er sich die Felsenbirne in der Wüste vorgestellt. Ein Baum mit verzweigten Ästen, wenig Laub, aber Früchten, die dunkelrot schimmerten und für ihn aussahen wie eine Mischung aus Feigen und Pflaumen.
Vor dem Baum blieb er stehen. Der Wunsch, auf die Knie zu fallen und zu beten, schoss in ihm hoch, aber er beherrschte sich, denn es war wichtig, seine Gedanken zu ordnen und sich dann an seine eigentliche Aufgabe zu machen.
Es war Godwin unbekannt, wie lange der Baum blühte und wie lange er Früchte trug. Deshalb durfte er die Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Er brauchte die Früchte. Er brauchte deren Saft, denn er war das Entscheidende.
Godwin hatte, als er vom Pferd gestiegen war, ein nicht allzu großes Gefäß mitgenommen. Mit einem Deckel war es verschlossen. Godwin hob ihn an und schaute ins leere Gefäß hinein. Das würde sich schnell ändern, wenn er die ersten Früchte geerntet hatte.
Der Templer trat noch näher an den Baum heran. Das Gefäß stellte er auf den Boden. Er musste sich nicht mal recken, um nach der ersten Frucht greifen zu können. Ein kurzer Ruck, und er hielt sie in der Hand. Sie war weich und er brauchte nicht viel Kraft einzusetzen, um sie zerdrücken zu können.
Das tat er, als er die Hand über das offene Gefäß hielt. Die
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