1706 - Lockvogel der Nacht
sie keine Erklärung hatte. Es war nahe, sogar sehr nahe, es griff sie an, und die Cavallo rührte sich nicht von der Stelle.
Um sie war zwar immer noch die Schwärze und zugleich ein Nichts, und bisher hatte sie das Gefühl gehabt, in einem schwerelosen Raum zu schweben. Jetzt gab es da noch eine andere Kraft. Sie strich an ihrem Gesicht vorbei, und diese Berührung empfand sie als Botschaft, die ihr etwas mitteilen wollte.
Dann drang es in sie ein!
Es gab keine Stelle ihres Körpers, die nicht in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Es war wie ein Dieb, es schlich sich in ihr tiefstes Inneres, es war nicht mehr zu halten, es breitete sich aus, und sie konnte nichts dagegen unternehmen.
Justine musste sich eingestehen, dass etwas von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie war nicht mehr allein. Aber trotzdem stand keine zweite Person vor ihr. Dieser neue Geist steckte in ihr. Er hatte keinen Körper, er war nur auf geistiger Ebene zu spüren, und die Cavallo erlebte etwas völlig Neues.
Sie wusste plötzlich, dass sie übernommen worden war.
Der Spuk hatte sein Versprechen gehalten. Es war zu dieser Vereinigung gekommen. Sie würde nicht mehr so handeln können wie früher. Ab jetzt hatte sie einen ständigen Begleiter, der ausgerechnet noch ihr Todfeind war, und sie fragte sich, ob und wie dieser Begleiter Kontakt mit ihr aufnehmen würde und ob er es überhaupt schaffte.
Es war alles so fremd, so neu, obwohl sich äußerlich nichts an ihr verändert hatte und sie nach wie vor in der Lage war, sich zu bewegen. Sie hätte gehen können, wenn sie es gewollt hätte, niemand würde sie daran hindern, aber sie ging nicht, und blieb stehen.
Sie wollte erst mal eine Weile abwarten, bevor sie etwas unternahm. In der Dunkelheit war es unmöglich, einen Zeitablauf zu schätzen, deshalb wollte sie auch nicht weiter darüber nachdenken, denn ewig und für alle Zeiten würde sie in dieser Dunkelheit nicht gefangen sein.
Es war schon seltsam. Obwohl ihr klar war, dass es in ihrem Innern eine Veränderung gegeben hatte, spürte sie nichts davon. Sie vernahm keine fremde Botschaft, sie hörte auch keine Stimme, und sie fragte sich, ob sie nicht doch einem Bluff aufgesessen war.
Genau in diesem Augenblick kam es zu dieser radikalen Veränderung. Plötzlich war die Stimme da. Sie hallte förmlich in ihrem Kopf wider. Von einer normalen Stimme konnte man jedoch nicht sprechen, es war mehr ein Flüstern. Jedenfalls ging sie davon aus, dass es sich um ein Flüstern handelte, und sie überlegte, ob ein Geist eine Stimme haben konnte.
»Ich bin noch da …«
Justine stieß ein Knurren aus. Sie wusste, dass er recht hatte. Er war noch da, zwar nicht körperlich aber geistig. Es war auch nicht der Klang seiner ihr vertrauten Stimme. Es war schlichtweg eine neutrale geisterhafte Botschaft, aber sie ging felsenfest davon aus, dass es sich um Dracula II handelte. Um seinen Geist, um das, was lange im Reich des Spuks gefangen gewesen war.
Und sie gab eine Antwort. Geflüstert drangen die Worte aus ihrem Mund. »Es ist schon klar. Man hat es mir gesagt …«
»Jetzt kann uns nichts mehr trennen …«
Die Worte konnten ihr nicht gefallen, wühlten sie innerlich auf, aber Justine dachte auch daran, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte. Sie musste sich ihrem Schicksal fügen und sich eingestehen, dass der Spuk mächtiger war als sie.
»Was willst du genau?«
»Nichts.«
Justine stutzte. »Habe ich mich verhört?«
»Nein, das hast du nicht.«
»Dann verlange ich eine Erklärung.«
»Sie hat sich schon in meiner Antwort befunden. Ich will im Prinzip nichts von dir. Du sollst dich so verhalten wie immer. Ja, wie du es schon immer getan hast. Du willst Blut trinken, du wirst dir eine neue Truppe schaffen. Du und ich, wir bilden jetzt eine Einheit, und wir beide haben ab jetzt einen neuen Todfeind.«
Die Cavallo brauchte nicht lange zu überlegen. »Das kann nur John Sinclair sein.«
»Ja!«
Diese Antwort hatte Justine Cavallo erwartet, und sie widersprach Mallmann nicht. Tief in ihrem Innern war sie sogar froh darüber, dass es so gekommen war. Sie hätte den anderen Zustand auch nicht mehr länger aushalten können. Er war zu stark gegen ihre vampirische Natur gegangen. Deshalb hatte sie vor Kurzem auch die beiden jungen Frauen als Blutsaugerinnen losgeschickt. Das war so etwas wie eine Ouvertüre für die neue Zeit gewesen.
Jetzt war sie da! Und sie konnte nicht eben behaupten, dass sie sich dabei unwohl fühlte. Diese
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