1719 - Totenmarsch
dass sie uns auf diese Weise umgehen wollten, doch da hatten wir uns auch geirrt, denn sie setzten ihren Weg nicht fort, nachdem sie die Straße verlassen hatten. Sie blieben stehen, und beide Gruppen bildeten dabei einen Halbkreis, in dessen Mitte wir uns befanden, da wir jetzt mitten auf der Straße standen und nicht mehr am Rand.
Die Fleischlosen hatten einen Plan. Eine andere Erklärung gab es für uns nicht. Sie hatten sich aufgebaut, sie warteten und wahrscheinlich lauerten sie auf den richtigen Zeitpunkt, um uns aus dem Weg zu schaffen.
Und sie fingen wieder an zu spielen. Es sah schon seltsam aus, wie sie mit zackigen Bewegungen ihre Instrumente anhoben und anfingen zu blasen oder zu trommeln.
Nicht unbedingt laut, mehr verhalten oder gedämpft. Wir hörten zu und hatten den Eindruck, dass sich diese Musik der Nacht angepasst hatte. Man sollte sich zeigen, aber man wollte nicht stören.
Ich musste zwei Schritte gehen, um direkt neben Suko stehen zu bleiben. Mein Kreuz gab noch immer dieses schwache Leuchten ab, was für mich im Moment nicht wichtig war, denn hier ging es einzig und allein um das Verhalten der Skelette.
»Haben Sie von allein so reagiert?«
Suko hob die Schultern. »Das kann ich mir kaum vorstellen, ich habe vielmehr den Eindruck, dass jemand anderer dahintersteckt.«
»Matthias?«
»Klar, John. Er hat sie auf die Reise geschickt, und ich kann mir vorstellen, dass sie eine Vorhut sind.« Mein Freund nickte. »Wir sollten also davon ausgehen, dass wir bald Besuch bekommen.«
»Ja, und zwar hier. Sie haben eine Falle aufgebaut, und ich denke nicht, dass sie uns einfach laufen lassen werden. Es ist ihr Spiel, in dem Matthias die Regie übernommen hat.«
»Und wo steckt er?«
Ich winkte ab. »Keine Angst, er wird noch früh genug kommen.«
Damit behielt ich recht, denn nicht weit entfernt klang uns das Lachen aus der Dunkelheit entgegen. Und ich kannte leider nur einen, der so lachte …
***
Mandy Hill hatte so etwas noch nie erlebt. Es war eine schlimme Lage für sie. Die Angst kroch in ihr hoch. Sie hatte den Eindruck, als würden schwache Stromstöße durch ihre Adern rinnen, die sich dann nahe des Herzens und über dem Magen zu einem Druck zusammenballten.
Woher kam die Angst, denn sie wurde nicht bedroht? Auch der Eindringling selbst machte auf sie keinen unsympathischen Eindruck, sogar das Gegenteil war der Fall. Nur eines störte sie. Und das waren die Augen. Eigentlich nicht sie selbst, sondern das, was in ihnen lauerte. Sie hatte so etwas noch nie gesehen. Es war eine blaue, sehr intensive Farbe, die auf der einen Seite leuchtete und auf der anderen etwas abstrahlte, das sie klein werden ließ, und gegen das sie nicht ankam.
Sie war nicht mehr sie selbst. Sie kam sich plötzlich so wehrlos vor. Sie wollte sich ducken, weil sie von diesem Blick nicht gefoltert werden wollte, aber sie schaffte es nicht. Das Augenpaar hielt sie in seinem Bann und sorgte dafür, dass sich ihr Gefühl der Furcht immer mehr steigerte.
Der Eindringling tat nichts. Er blieb nur stehen und schaute zu, wie die Frau schwankte und dabei leise Jammerlaute ausstieß. Sie konnte sich nicht länger auf den Beinen halten, fiel auf die Knie, senkte den Kopf, um nicht mehr in dieses Gesicht schauen zu müssen, und stellte fest, dass sie am ganzen Leib anfing zu zittern. Sie stierte gegen den Boden, der vor ihren Augen verschwamm, weil Tränen ihre Augen benetzten.
Die Angst war da. Sie blieb nicht nur, sie verstärkte sich noch. Ihr Inneres wurde zerrissen, sie glitt tief hinein in eine Depression, sie war noch ein Mensch, aber sie fühlte sich wertloser als irgendein Gegenstand. Das Menschliche war ihr genommen worden, abgesehen von einem Gefühl – eben die Angst.
Die hatte sie voll und ganz übernommen. Sie hatte das Gefühl, von einer fremden Macht erfüllt worden zu sein. Es war etwas in sie hineingekrochen, gegen das sie sich nicht wehren konnte.
Sie fiel auf den Boden und blieb jetzt lang gestreckt liegen. Dabei zog sie die Beine an. Mandy kam sich vor wie ein Wurm, der sich krümmte. Sie atmete noch, aber wenn sie Luft holte, dann glaubte sie, dass diese Luft nicht mehr bis in ihre Lungen reichte. Alles war anders geworden. Man hatte ihr die Würde genommen und sie war nur noch ein Spielball ihrer eigenen Angst.
Sie verging nicht. Sie raubte ihr den Atem, sie war überall, jede Faser ihres Körpers schien darunter zu leiden. Ihr tat äußerlich nichts weh, und doch war sie nicht in der Lage,
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