1722 - Flucht in die Finsternis
Morgenmantel hing. Sein Aufhänger war um einen Haken gedreht worden, und Jean hakte ihn los.
Mit dem Mantel trat er der auf der Couch sitzenden Frau entgegen und nickte ihr zu.
»Ziehen Sie ihn über.«
»Ja.« Sie bewegte sich nur langsam, als sie sich von der Couch erhob. Dabei vermied sie es, auch nur einen Blick auf den Toten zu werfen. Sie rieb nur ihre Augen und verteilte dabei das schwarze Make-up noch mehr. »Was hast du mit mir vor?«
»Wir gehen erst mal weg.«
»Ja, und dann?«
»Kannst du bei mir bleiben. Meine Frau Suzie wird sich um dich kümmern.«
»Wo wohnst du denn?«
»Hier auf dem Flur.«
»Gut.« Sie knotete den Gürtel des Mantels vor ihrem Bauch zusammen. Die schrecklichen Ereignisse hatten bei ihr für eine körperliche Erschöpfung gesorgt. Es war ihr kaum möglich, sich auf den Beinen zu halten, was auch Jean Katanga sah, und deshalb war es besser, wenn er sie stützte.
Mit kleinen Schritten ging er auf die Tür zu. Die Frau hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Ihr Atmen glich mehr einem Stöhnen.
»Warum hat man Alf so angegangen, und was wollte der andere von mir?«
»Das klären wir später.«
»Warum?«
»Weil es besser für dich ist, wenn du dich erst mal erholst.«
»Gut.«
Sie hatten die Tür erreicht und betraten den Flur. Dort standen noch drei Bewohner, aber Alf war nicht zu sehen, was der Frau sofort auffiel.
»Wo ist er?«
Sie erhielt eine Antwort. Eine dünne Frau, die an ihrer Zigarette saugte, sagte: »Er ist in unserer Wohnung bei meinem Mann. Das war er Alf schuldig. Die beiden haben oft genug miteinander gesoffen.«
»Das ist gut. Kann ich zu ihm?«
Die Dünne hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Wo hast du denn sonst hingehen wollen?«
»Zu mir«, sagte Jean.
»Ich will aber zu Alf!«
Katanga war einverstanden. Er übergab die Frau in die Obhut der Nachbarin, die gleich darauf mit ihr in einer anderen Wohnung verschwand. Darüber war Katanga sogar froh. Er brauchte nicht mehr den Schutzengel für andere Menschen zu spielen und konnte sich um seine eigenen Probleme kümmern, wobei er natürlich nicht nur an sich dachte, sondern auch an seine Frau.
Aber auch der Gedanke an John Sinclair und Suko kam ihm in den Sinn. Er sah nichts von den beiden, hätte aber gern gewusst, wo sie steckten.
Die Antwort erhielt er von einem letzten Nachbarn, bevor dieser in seiner Bude verschwand.
Der Mann deutete den Gang hinab und dem Ausgang entgegen. »Dahin habe ich sie gehen sehen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, warum soll ich dich anlügen?«
»Schon gut, nur keinen Stress.« Jean machte sich ebenfalls auf den Weg. Im Flur dicht hinter der Haustür blieb er stehen und schaute sich erst mal um. Die Treppe war wichtig. Sie führte hoch in die nächsten Stockwerke, und Katanga ging davon aus, dass sich seine beiden neuen Freunde dort aufhielten und wahrscheinlich Wohnungen untersuchten.
Sie würden allein zurechtkommen. Er dachte dabei an seine Frau, nach der er unbedingt schauen wollte. In seinem Innern hatte sich so etwas wie eine Unruhe breitgemacht. Selbst sein Herzschlag war nicht mehr so ruhig wie sonst.
Er ging zurück. Wenn ihn jetzt jemand angesprochen hätte, es wäre vergeblich gewesen, denn der andere hätte von ihm keine Antwort erhalten.
Sein Ziel war die Wohnungstür. Er öffnete sie, ging zwei Schritte hinein – und wurde fast zu Eis.
Was er sah, war nicht zu fassen. Unglaublich und für ihn zudem grauenhaft. Seine Frau Suzie war nicht mehr allein. Sie hatte Besuch von einer Frau bekommen, die dabei war, ihr Blut aus einer tiefen Schulterwunde zu saugen.
Jean Katanga schrie.
Dann rannte er los und starrte auf ein Messer mit der blutverkrusteten Klinge, das nahe der beiden Frauen auf dem Boden lag …
***
Wir hatten das Haus verlassen und waren in die kühle Nachtluft getreten. Den Geruch des Hauses hatten wir hinter uns gelassen, aber das Problem war nicht kleiner geworden. Wir mussten den Glatzkopf und seine Begleiterin finden, die sich hier im Freien aufhalten sollten. Ob das wirklich zutraf, war die große Frage. Wir sahen erst mal nichts. Die beiden schienen sich zurückgezogen zu haben, hielten sich möglicherweise auch versteckt und lauerten auf eine günstige Gelegenheit. Es konnte auch sein, dass sie ein anderes Haus betreten hatten. Eines allerdings stand fest: Es handelte sich bei ihnen um Halbvampire, die zudem hungrig waren, und diesen Hunger konnten sie nur mit dem frischen Blut der Menschen stillen.
»Warum sind
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