1722 - Flucht in die Finsternis
stets jemand gewesen, der die Gewalt und den Streit hasste und sich immer als Schlichter gesehen hatte.
Das war genau in diesem Moment vorbei, als er die Szene sah, die für ihn so unglaublich war. Er wusste auch nicht, ob seine Frau noch lebte, und das war der Moment, als er praktisch aus seinem normalen Leben heraustrat, zu einem anderen wurde und eigentlich nur noch rot sah.
Er reagierte wie eine Maschine, die auf etwas Bestimmtes programmiert worden war. Er handelte rein instinktiv. Er schaffte es, mit einem Griff das Messer zu fassen, das auf dem Boden lag.
Die Frau kümmerte sich nicht um ihn. Sie war voll und ganz auf ihr Opfer konzentriert. Sie hatte es gegen die Wand gedrückt und hielt ihre Lippen auf die Wunde gepresst, aus der sie das Blut trank. Es ging nicht lautlos über die Bühne, und die Geräusche, die Jean hörte, empfand er als schlimm.
Da klang ihm ein Schmatzen und Schlürfen entgegen. Er sah, dass der Kopf zuckte. Normalerweise kann man eine Gier nicht hören, doch Jean hatte den Eindruck, dass dies hier anders war.
Er hob den rechten Arm. In der Hand hielt er das Messer. Er ging, und er kam sich dabei vor wie sein eigener Geistkörper.
Er wollte seine Frau nicht sterben sehen. So etwas zu erleben war mehr als grauenhaft, das konnte er sich nicht mal vorstellen, und dann sah er den Rücken der Frau nahe genug vor sich.
»Da!«
Jean hatte das eine Wort hervorgebrüllt. Es war das Signal für den Stoß.
So tief wie möglich rammte er die Klinge in den Körper der Blutsaugerin.
Mona hatte ihn nicht gesehen. Sie war völlig ahnungslos und musste den Stich hinnehmen.
Zuerst tat sich nichts. Auch Jean bewegte sich nicht. Er starrte auf den Rücken und auf den Griff des Messers. Seine Augen waren weit geöffnet und sogar blutunterlaufen. Er stieß den Atem stoßweise aus und kam sich noch immer vor wie ein Fremder.
Aus seinem Mund drang ein tiefes Stöhnen, als der Frauenkörper anfing zu zucken. Zuerst nur langsam, dann immer schneller.
Mona brach auf der Stelle zusammen. Sie versuchte noch, sich an Suzie festzuhalten, riss sie aber mit sich.
Jean Katanga hatte nur auf Monas Rücken gestarrt, dessen linke Seite er getroffen hatte, und links saß das Herz eines Menschen. Die Klinge war lang genug, um es erreicht zu haben, und deshalb ging er davon aus, dass diese Gestalt nicht mehr lebte.
Sie krachte schwer auf den Boden. Bäuchlings blieb sie liegen, aber auch Suzie fiel. Ihre linke Schulter war voller Blut. Ihr Mann wusste nicht, ob sie bewusstlos war oder vielleicht nicht mehr lebte, denn sie kam ihm vor wie eine Tote.
Und doch wollte er sie nicht fallen lassen. Bevor sie den Boden berührte, fing er sie ab und bettete sie auf seine Arme. Er sprach mit ihr und wusste selbst nicht, was er sagte, aber ihm war klar, dass sie liegen musste.
Er ging zur Couch und legte sie nieder. Genau in dem Augenblick, als der Kontakt mit der Unterlage entstanden war, zuckte sie zusammen und stöhnte leise auf.
Für ihren Mann war es das schönste Geräusch der Welt, denn jetzt wusste er, dass Suzie nicht tot war. Sie war nur schwer verletzt, brauchte einen Arzt und würde bestimmt durchkommen.
»Wir schaffen es«, flüsterte er, »du musst keine Angst haben. Jetzt bin ich bei dir. Wir kriegen das alles hin, das kann ich dir versprechen. Ich werde dich nicht mehr allein lassen. Wir gehören zusammen, und du darfst mich doch nicht verlassen. Das – das – will ich nicht.« Er küsste immer wieder ihr blasses Gesicht und störte sich auch nicht daran, dass es mit dem Blut aus der Wunde in Verbindung kam und rote Flecken an seinem Kinn hingen.
»Jetzt lasse ich dich für einen Moment allein«, keuchte er. »Ich – ich – muss eben mein Handy holen …« Er schnellte hoch, nickte ihr zu und lief ins Schlafzimmer, wo auch ihre Kleidung untergebracht war. In einer seiner beiden Jacken steckte das tragbare Telefon.
Sekunden später traf ihn die Enttäuschung wie der Schlag mit einem Gummihammer. Der Akku war leer. Er würde nicht telefonieren können und musste sich erst einen neuen Apparat besorgen. Aber das war ein verdammtes Problem in dieser Umgebung.
Ein jaulender Schrei verließ seinen Mund. Vor Wut hätte er sein Handy beinahe gegen die Wand geworfen. Im letzten Augenblick hielt er sich zurück.
Seine Gedanken rasten. Er musste weg aus der Wohnung, auch wenn seine Frau allein blieb. Ein anderes Handy besorgen. Oder auch Sinclair treffen.
Sie überlebt es! Ja, sie überlebt es! Sie darf
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