1723 - Das Templer-Trauma
sie in der Nacht gehört und letztendlich auch gesehen hatte.
»Haben Sie denn gut geschlafen?«
»Das weiß ich nicht …«
»Wieso? Schlecht geträumt?«
Die Antwort erfolgte nicht sofort. Dann aber sagte er: »Sie haben mich besucht, glaube ich. Die Heiligen und der Teufel. Ja, sie sind hier gewesen, und ich weiß, dass sie mich irgendwann holen werden. Ich will aber nicht in die Hölle.«
»Das wird auch nicht so sein.«
»Ich will in den Himmel. Er ist für mich wichtig und nicht die Hölle.«
»Sie müssen keine Angst haben. Solange ich bei Ihnen bin, werden Sie nicht in die Hölle kommen.«
Seine nächsten Worte schockierten Judith. »Der Tod nimmt keine Rücksicht. Er greift jeden an, verstehen Sie? Jeden! Ich habe zu viel gesehen. Ich weiß zu viel. Sie haben es mir gesagt. Ja, das ist die Wahrheit …« Seine Stimme sackte weg und die Augen schlossen sich, sodass er wieder in einen tiefen Schlaf fiel.
Judith stöhnte auf. Sie wusste nicht, wie sie das Verhalten des Mannes einschätzen sollte. Sie hatte ihn bis gestern noch als liebenswert, aber auch als durcheinander angesehen, heute aber hatte sie ein anderes Bild von ihm.
Er schlief. Sie wollte ihn auch nicht wecken und verließ das Zimmer.
Als sie die Tür hinter sich schloss, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie nahm sich vor, die Ärzte hier, die zugleich ihre Vorgesetzten waren, nicht zu informieren. Diese Sache wollte sie allein durchziehen. Sie hoffte nur, dass man sie nicht auslachte.
Im Schwesternzimmer packte sie ihre Tasche, einen Beutel aus Leinen. Und schon hörte sie auf dem Flur die Stimmen der beiden Kolleginnen, die wenig später die Tür öffneten und einen guten Morgen wünschten, aber das mit Stimmen, die noch müde klangen. Ihre Kaffeetassen hielten sie in den Händen und warteten auf Judiths Bericht.
»Alles klar«, log sie und lächelte dabei. »Es gab keine Probleme in der Nacht.«
»Hat sich niemand beschwert? Hat keiner randaliert?«
»Überhaupt nicht.«
Die Kolleginnen schauten sich an. »Dann wollen wir hoffen, dass der Tag auch so verläuft.«
»Bestimmt.« Judith lächelte breit. »Ich jedenfalls fahre jetzt nach Hause und mache mich lang.«
»Tu das. Wie lange musst du noch die Nachtschicht schieben?«
»Eine Woche.«
»Wir sehen uns.«
Judith war froh, das kleine Zimmer verlassen zu können. Sie sehnte sich nach der frischen Morgenluft und freute sich auf den neuen Tag. Nur würde der anders verlaufen als sonst. Das hatte sie im Gefühl, und sie glaubte zudem, an der Schwelle zu etwas ganz Großem zu stehen, das alles in den Schatten stellte, was sie bisher in ihrem Leben durchgemacht hatte …
***
Dr. Peter Goldsmiths Praxis lag in einem gläsernen Bau mit vielen Scheiben und wenig Beton. Ein gewaltiges Gebäude, ein futuristisches Denkmal. Ein Haus für Ärzte und Anwälte. Gelegen in direkter Sichtweite der Themse und von den Mieten her sicherlich horrend. Um die Intimität zu wahren, waren Rollos vor die meisten Fenster gezogen worden. Ein breiter Glaseingang nahm uns auf, und zwei Arbeiter, die den Boden säuberten, traten zur Seite, um uns einzulassen.
Alles war neu – und steril. Helle Wände, ein grauer Steinboden. Die Sessel für Besucher, die warten mussten, waren mit einem glänzenden Leder überzogen. Dorthin wandten wir uns nicht, sondern gingen auf die Anmeldung zu, die aus einem Pult bestand, das wie ein Kunstwerk wirkte und besser in eine Ausstellung gepasst hätte.
Dahinter warteten eine Frau und ein Mann auf die Besucher. Beide trugen schicke dunkle Kleidung. Die Frau darunter eine weiße Bluse, der Mann ein helles Hemd.
Sie war dunkelhaarig, er blond, beide um die dreißig und natürlich perfekt frisiert.
Wahrscheinlich sahen wir nicht aus wie Besucher, die hier ständig ein- und ausgingen. Unsere Kleidung war locker und alles andere als steif. Dennoch wurden wir lächelnd begrüßt, aber dieses Lächeln war nicht echt. So lächelten auch die Puppen in einem Spielzeugladen.
Der Knabe fragte mit einem näselnden Tonfall. »Was, bitte, können wir für Sie tun, meine Herren?«
Ich nickte kurz und sagte: »Wir möchten zu Mister Peter Goldsmith.«
»Sie meinen zu Dr. Goldsmith?«
»Meinetwegen auch das.«
Jetzt schob sich die Frau vor. Ihre Lippen ähnelten denen von Angelina Jolie.
»Haben Sie einen Termin?«, zwitscherte sie.
»Ja, nur keinen bestimmten.«
»Dann tut es mir leid.«
Die Gesichter der beiden verschlossen sich. Sicherheitshalber schaute der Mann noch
Weitere Kostenlose Bücher