172,3 (German Edition)
ließ. Er zögerte einen Augenblick zu lange, was man als Feigheit auslegen konnte. Dann drehte er sich um und reagierte, was sich im Nachhinein als Fehler erwies.
»Ich bin Viktor Vogel und Lehrer an dieser Schule.« Eine Antwort, die wenig schlagfertig war, aber zu seinem entrüsteten Gesichtsausdruck passte.
»Heftig, Digga«, lachte ein anderer und sah ihn einschüchternd an. Viktor spürte, dass dieser Blick in anderen Kontexten geschult worden war und die Körperhaltung signalisierte eine lässige Angriffsbereitschaft.
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«, versuchte er eine friedliche Konversation voranzutreiben, um Informationen für später einzuholen.
»Darfst du nicht«, bekam er zur Antwort und der Junge, der sich vor seinem Wagen verbeugt hatte, schälte sich aus dem Trio hervor.
»Verzeihung, Herr Schwabbel.« Seine Freunde grinsten breit. »Ich bin Sean Voll, das ist mein Kollege Konstant Breit, und das ist …«
Sie prusteten los, der eine fiel wie ein Klappmesser vornüber und schlug sich auf die Schenkel. »Digga, bist du geil«, honorierten sie seine Kreativität.
Viktor drehte sich um und ging zur Tür. Er würde Meldung machen, er würde herausbekommen, ob die drei hier an der Schule waren, und wenn ja, würde er in Absprache mit dem Schul- und dem Internatsleiter einen Verweis durchsetzen. Er würde in den Betrieben der Jungs anrufen und den Vorfall schildern, so dass ihr Leumund auch an dieser Stelle leiden würde. Dennoch fühlte er sich durch seine Reaktion nicht befriedigt. Was hätte er machen können? Gegen ›Schwabbel‹ war nicht viel einzuwenden. Mit dieser Direktheit wurde er ausgepuncht. Sein ganzes Leben als ›Schwabbel‹ war dies seine Achillesverse – und sie war zu offensichtlich. Er schritt die Stufen zum Eingang hoch, mit seinen Antennen nahm er weitere Schmähungen hinter seinem Rücken wahr, registrierte und speicherte sie ab, und dennoch … dennoch hätte er martialisch reagieren, seine Gegner direkt demütigen und vernichten wollen. Er öffnete die Tür, trat ein, ließ sie hinter sich einschnappen und lehnte sich keuchend dagegen. Er zitterte; vor Wut, Trauer, Demütigung. Er kam sich wie ein geprügelter Hund vor, und er hatte die Gewissheit, dass ein so beginnender Tag kein gutes Ende finden würde.
Er ging am Sekretariat vorbei und schloss die Tür zum Lehrerzimmer auf. Böger von den Schuhorthopäden war schon hier, seine Tasche lag auf dem Konferenztisch. Viktor ging zu seinem Postfach, griff unbesehen nach dem Stapel und verließ das Lehrerzimmer. Mühsam arbeitete er (Schwabbel) sich in den ersten Stock zu den Mechatronikern, öffnete die Tür zum Technikraum der Fahrzeugkommunikation. Eigentlich war es schon lange kein Technik- raum mehr, sondern das Büro von Kellermann und ihm. Hier standen ihre Unterrichtsmaterialien, ein Rechner mit Netzzugang, aber auch Privates.
Kellermann hatte nur noch zwei Jahre vor sich und überließ ihm die administrative Arbeit, die Gestaltung und Pflege der Homepage, den aktuellen Stand der Lernempfehlungen durch das Kultusministerium und der Handwerkskammer zu halten, die Netzwerkpflege zu den regionalen Betrieben und Kooperationspartnern, und vieles mehr. Aber gerade diese Arbeit bereitete ihm Freude. Der aktuelle – von ihm in seiner Freizeit gestaltete – Internetauftritt der KFZ-Mechatroniker war preisverdächtig, und sein Engagement wurde auf höherer Verwaltungsebene gelobt. Sein sehr strukturierter und ambitionierter Unterricht hingegen erhielt selten ein angemessenes, positives Feedback von Schülerseite. Weil er fett war. Weil seine Performance (diesen Begriff nutzte er seit der letzten Supervision vor zwei Jahren ausgiebig) von Unsicherheit geprägt war.
Er warf die Post auf den Schreibtisch, hängte seine Jacke an den Haken und ließ sich in seinen Bürostuhl fallen. Ein Bürostuhl extra für sehr Übergewichtige. Der Betriebsrat hatte eine Untersuchung durchgeführt und das Ergebnis, die Übergewichtigen (Er!) würden Rückenleiden bekommen, wenn sie keine angemessene Bestuhlung anschafften, lautstark in der Schule verkündet. Stark übergewichtig hieß: >150kg. Er hatte alle weiteren Nachfragen abgeblockt und sich gefragt, ob der Betriebsrat sich auch über die psychischen Folgeleiden der Mitarbeiter im Klaren war, wenn sie solche Untersuchungen derart unsensibel angingen.
Eigentlich wollte er sich auf den Unterricht vorbereiten, aber er zog es vor, ein Ereignisprotokoll über den Vorfall auf dem Parkplatz zu
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