172,3 (German Edition)
bald kalt«, sagte ›Sean‹.
Viktor verstand den Hinweis nicht und entschied sich, nachzufragen. »Was hat das damit zu tun?«
»Der Luftdruck in den Reifen ändert sich und sie könnten platzen, wenn das Material porös ist. Bumm!« ›Sean‹ klatschte blitzschnell die Hände zusammen, die Klasse zuckte kollektiv. »Während der Fahrt, einfach so«, grinste er. Deutlicher hätte eine Drohung nicht sein können.
Viktor schluckte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Während der Fahrt? Einfach so?«, wiederholte er, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »Das verstehe ich als Drohung.«
›Sean‹ blähte die Backen auf und zog die Augenbrauen hoch. Viktor wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte, spürte aber, dass er sich schnell entscheiden musste.
»Eine Drohung«, sagte er mehr zu sich selbst und kaute auf seiner Unterlippe. »Ich möchte jetzt, dass Sie den Unterricht verlassen«, entschied er und ging zwei Schritte auf die hintere Sitzreihe zu.
»Sicher?«, fragte ›Sean‹.
Viktor nickte.
Der Junge stand geschmeidig auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Seine beiden Kumpane erhoben sich ebenfalls.
»Sie können hierbleiben«, sagte Viktor zu den beiden.
»Fick dich, Herr Schwabbel«, sagte der bisher Unbekannte, glitt mit dem Hosenboden über den Tisch und ging, Viktor aggressiv anstarrend, bedrohlich nahe an ihm vorbei. ›Konstant Breit‹ folgte ihm, ›Sean‹ blieb vor Viktor stehen und kam ihm ganz nahe.
»Sicher?«, flüsterte er Viktor ins Ohr.
»Ja«, antwortete Viktor in gewöhnlicher Lautstärke.
»Dann pass auf dich auf«, zischte ›Sean‹. »Pass auf dich auf!«
Er ging zur Tür, zeigte im Rausgehen beide Mittelfinger und knallte die Tür zu. Viktor blieb einen Augenblick stehen, schloss die Augen und atmete tief durch.
»Gut … gehen wir erst einmal die Namen durch«, begann er seine erste Stunde.
*
Der Unterrichtstag war beendet. Kellermann blieb noch im Büro. Viktor packte seine Sachen und ging zur Unterredung mit Kirschstein. Auf dem Weg nach unten sah er ›Sean‹ allein im Treppenhaus stehen. Dessen Körpersprache verriet eine völlig andere Haltung als zuvor. Statt aufgeblähtem Selbstbewusstsein zeigte er eine linkische Verlegenheit. ›Sean‹ fuhr sich mit der linken Hand durch das Haar und stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte.
»Herr Vogel«, sagte er und stellte sich Viktor unsicher in den Weg.
Viktor war von der Wesensänderung überrascht, aber nicht vereinnahmt. Er vermutete, dass Sean sich für sein Verhalten entschuldigen wollte, weil er sich der Konsequenzen bewusst geworden war.
»Herr Vogel, ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.« ›Sean‹ hielt ihm die Hand entgegen.
Viktor nickte, nahm das Angebot aber nicht an. »Das finde ich sehr gut, dass du dich bei mir entschuldigen willst, dennoch muss ich das Vergehen melden.«
»Bitte«, flehte der junge Mann und seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Damit hatte Viktor nicht gerechnet.
»Bitte! Sie ahnen nicht, was ich für einen Ärger bekomme. Das steht jetzt schon alles auf der Kippe bei mir. Bitte lassen Sie das unter uns klären.«
Einen Augenblick wankte Viktor in seiner Entscheidung und überlegte, wie ein solcher Weg zu gehen wäre. Aber seine pädagogische Überzeugung forderte von ihm diese Konsequenz. Viktor schüttelte den Kopf.
»Das kann ich nicht machen«, antwortete er ruhig, und weil ihm die Situation unangenehm war, schob er sich an ›Sean‹ vorbei.
»Fuck!«, kreischte der. Seine Stimme überschlug sich. »Fuck!« Er schlug gegen das Treppengeländer, der Hall breitete sich im Treppenhaus aus. Viktor beschlich der Verdacht, dass ›Seans‹ Reaktion in gewisser Form durchaus krank zu nennen war und beeilte sich, die letzten Stufen runter zu kommen. Er öffnete die Tür, schob sich in den Verwaltungstrakt und mit der zufallenden Tür erstarb auch das hysterische Geschrei.
»Pff …«, stöhnte Viktor auf und steuerte auf Kirschsteins Büro zu.
*
»Mit Milch und viel Zucker, oder?«
»Ähm … nee … keinen Zucker mehr. Danke.«
Viktor und Schulleiter Kirschstein saßen im sogenannten Präsentations- und Besuchszimmer der Schule. Viktor saß hier zum ersten Mal mit Kirschstein allein und wusste nicht, was er davon halten sollte. Kirschstein kam mit zwei Tassen Kaffee (und einem Keks auf dem Tellerrand) zum Tisch und servierte Viktor, bevor er sich ihm gegenüber setzte.
»Also«, sagte der Schulleiter, schlug eine Akte auf, las darin und fuhr mit
Weitere Kostenlose Bücher