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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Voss
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schöpfen und das flüsternde Wispern seines Zweifels zu ersticken.
Sich an feierliche Schiffstaufen erinnernd, schlug er die Flasche Wein an den Findling. Sie weigerte sich, zu zerspringen. Er holte weiter aus, schlug kräftiger zu. Die Flasche zersprang und er spürte einen Schmerz an seiner Hand. Reflexartig schützte er sie mit der anderen. Ein Splitter hatte ihm den Handrücken über dem Mittelfinger aufgerissen. Im Dunkeln konnte er die Schwere der Wunde nicht beurteilen. Er nahm seine Hand in den Mund und sog an der Wunde. Eisen. Es schmeckte nach viel Blut. Es fühlte sich danach an, als würde sein Blut an der Hand entlang rinnen.
»Scheiße«, flüsterte er und suchte nach einem Taschentuch. Nichts. Er nahm sein Hemd und drückte den Saum auf die Wunde.
»Mit Wein und Blut besiegelt«, lachte er im Stillen und machte sich im Dunkeln tastend auf den Rückweg. Wie Recht er hatte, ahnte er in diesem Augenblick noch nicht.
*
Zwischen schattigen Wolken lugte der Mond gelegentlich hindurch, Wind kam seeseits auf und wo vorher der Hügel Heimat nachtaktiver Tiere war, herrschte Stille. Eine Stille, die man in ummauerten Räumen vermutete, vielleicht sogar in Särgen, nicht aber auf einem bewaldeten Hügel an einem See.
Doch nichts hielt sich an dieser Stelle freiwillig auf, um Zeuge der Geburt eines fleischgewordenen Wunsches zu werden, der sich aus dem Erdreich durch Jahrhunderte Vergessenheit hindurchgrub, die schwere Erde abschüttelte, sein Augen öffnete und Witterung zu seinem Meister aufnahm. Etwas war erwacht.
*
Kurz vor dem Ende der Ferien war es soweit. Sein erster Termin bei den Weight Watchers.
Er meinte es ernst und hatte sich im Netz nach einer Gruppe in seiner Nähe umgeschaut. Im ›Europaweg‹, einem kleinen Gewerbegebiet in Travemünde, fanden Kurse statt und der Donnerstagvormittag stimmte optimal mit seinem Unterricht im Berufsbildungswerk überein. Bis viertel nach zehn ging der Kurs, um halb elf begann der Unterricht ›Demontieren von fahrzeugtypischen Baugruppen‹. Wenn die Fähre pünktlich fuhr, sollte er es schaffen, und vielleicht gab es auch die Möglichkeit den Weight Watchers-Kurs fünf Minuten früher zu verlassen.
Er parkte etwas abseits des Klinkerbaus mit dem Firmenlogo in der Fensterfront (es war ihm peinlich), atmete tief durch und stieg aus. Wie ein Jäger näherte er sich dem Eingang auf dem Hinterhof, betrachtete die dort parkenden Fahrzeuge und beobachtete die hinter einem Fenster tätigen Personen. Alles Frauen, stellte er fest und fragte sich plötzlich aufgeschreckt, wie sich das anfühlte, der einzige Mann in seinem Kurs zu sein. Vormittags waren wahrscheinlich alle dicken Männer arbeiten. Viktor schwitzte, doch überwand sich – er hatte geschworen abzunehmen, und jetzt gab es kein Zurück mehr. Er legte Hand an den Türgriff, wischte sich mit dem Ärmel seines Jacketts den Schweiß von der Stirn, schluckte und öffnete die Tür.
Ein breiter Flur, Stelltafeln mit Weight Watchers-Produkten und Leitlinien, Idealen, Bildern von erfolgreichen und offenbar glücklichen Abnehmern und eine Schlange (nur Frauen – und einige fand er überhaupt nicht dick), die auf ein Pult zuführte, vor dem unverkennbar eine Waage stand. Jetzt konnte er noch raus, und in den verstreichenden Sekunden war er kurz davor, diese Option zu wählen, aber standhaft widersetzte er sich seiner eigenen Feigheit und lächelte die Frauen an, die sich zu ihm umdrehten. Er kannte die Blicke. Selbst für Übergewichtige schien er über erschreckende Ausmaße zu verfügen. Und tatsächlich konnte es keine der Anwesenden mit ihm aufnehmen. Seine sensiblen Antennen orteten allerdings noch etwas anderes in ihren Blicken: das Fehlen von Verachtung und eine Art Willkommen.
Gespannt wartete er und beobachtete die Abläufe vor ihm. Auf die Waage stellen (einige zogen sich vorher die Schuhe aus), eine Karte reichen, Broschüren und Karte in einem Korb zurück erhalten. Dann gingen sie in einen anderen Raum und kamen nach einiger Zeit zurück, um in den großen Raum zu gehen, der weiter links von ihm hinter einem offenen Durchgang lag. Stühle waren in mehreren Reihen zu einem Halbkreis angeordnet. Im Zentrum des Kreises standen zwei Tische (Weight Watchers-Produkte) und Stelltafeln (Weigth Watchers-Leitlinien, Weight Watchers-Ideale und so weiter) und die bereits gewogenen Frauen saßen dort erwartungsvoll.
»Guten Tag«, sagte er und reichte seine Hand über das Pult und die (schlanke) Frau erwiderte seine

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