172,3 (German Edition)
Begrüßung.
»Ich bin heute das erste Mal da und … tja, möchte mir das mal anschauen.«
»Schön. Ich bin Gabi Bauer, Ihr Coach.«
»Viktor Vogel.«
»Gut, Herr Vogel. Hier wiegen Sie sich immer vor einer Sitzung. Das Gewicht wird in diesem Heft protokolliert, und diese freien Felder«, sie deutete mit einem pink lackierten Fingernagel ins Heftchen, »können Sie ausfüllen. Dazu erhalten Sie heute diesen Ordner und die Broschüren, die Ihnen beim Abnehmen helfen. Sie haben die Möglichkeit einzeln für jede Sitzung zu zahlen oder Sie können die Monatsmitgliedschaft beantragen, dann steht Ihnen auch noch unser wunderbarer Online-Assistent zur Verfügung.«
Viktor nickte. Er hatte sich im Vorfeld für die Monatsvariante entschieden und Larissa, sonst eher der sparsame Pol in ihrer Beziehung, hatte seine Entscheidung voll befürwortet.
»Online«, sagte er.
Frau Bauer verstand nicht.
»Also, ich meine die Monatsmitgliedschaft.«
Sie nickte und schob ihm einen Plastikkorb zu.
»Damit gehen Sie jetzt durch diese Tür und beantragen alles. Und wenn Sie wollen, würde ich mich sehr freuen, Sie gleich in unserer Stunde begrüßen zu dürfen.«
»Gern«, sagte er und wollte mit dem Korb durch die Tür.
»Halt, das Wiegen nicht vergessen!« Sein zukünftiger Coach lachte und er stellte sich auf die Waage. Es gab keine Anzeige.
»Und?«
»Warten Sie … jetzt!« Sie trug etwas ins Heft ein. »Hier sehen Sie, wie viel Sie wiegen und das sind die Propoints, die Sie am Tag essen dürfen. Jedes Lebensmittel verfügt über eine bestimmte Anzahl an Propoints. Viele finden Sie in den Broschüren, aber alle sind in Ihrem Online-Assistenten in einer Datenbank gespeichert. Nutzen Sie ihn«, sagte sie und lächelte. Das Gewicht wurde also diskret behandelt, freute es ihn, und nun verstand er auch den hölzernen Aufbau am Pult, der als Sichtschutz diente. Sie legte sein Heftchen in den Korb und reichte ihn rüber.
»Danke.« Er ging in den Raum zum Anmelden und sah unauffällig nach dem eingetragenen Gewicht in seinem Heft: 172,3.
»Wow«, entfuhr es ihm. Seitdem er mit Larissa am Taschensee war, hatte er nicht nur sein Gewicht gehalten, sondern sogar abgenommen. Er hatte sich nackt und vor dem Frühstück gewogen, und heute hatte er gefrühstückt, trug seine lange Hose, Hemd, Jackett und Turnschuhe. Er hatte abgenommen! Gut gelaunt klärte er die Formalitäten, kaufte aus einem Glücksgefühl heraus, Weight Watchers-Reiswaffeln und zwei Tütensuppen, ging in den Gruppenraum und nahm in der hinteren Reihe Platz. Er blätterte in den Broschüren. Eigentlich, um nicht in Kontakt mit anderen treten zu müssen, doch je länger er sich einlas, desto interessierter wurde er. Wie viel Salz Brot hatte. Das hätte er nie gedacht. Frau Bauer kam, stellte sich in die Mitte und begann mit seiner ersten Weight Watchers-Stunde.
Begrüßung, neue Teilnehmer wurden vorgestellt, unter anderem auch er (›Hallo, ja … ich bin, äh … hier, um, äh … abzunehmen, Danke‹), Wetterberichte wurden abgegeben, dass hieß, wer hatte schlechtes Wetter (=Zunahme) zu verkünden und bei wem ging es freundlich zu, Produktvorstellungen, Verabschiedung. Erstaunt war er über die Erfah- rungsberichte mehrerer Teilnehmerinnen. Drei von ihnen, die heute etwas erzählten, hatten jeweils über 20 Kilogramm abgenommen. Er stellte sich das Gewicht plastisch als 1-Liter-Milch-Packungen vor. Sechs Kartons Milch, die die Frauen abgenommen hatten. Sechs Kartons waren mit Mühe in einem Einkaufswagen unterzubringen. Sechs Kartons Milch wollte er auch abnehmen. Er lächelte bei der ihm aufkommenden Frage, wohin – nach der These, dass Energie nie verloren ginge – diese Gewichtsmassen verschwinden würden. Ob sie wohl jemand anderes zunehmen würde?
171,4 kg
Das letzte Wochenende bevor er wieder arbeiten musste. Und es war auch das letzte Wochenende, an dem sie grillen wollten. Der Tisch auf der Terrasse war gedeckt, Larissa bereitete in der Küche einen grünen Salat (statt Nudelsalat) vor, und er fächerte der weiß werdenden Grillkohle mit einem Automobilmagazin Luft zu.
Abends wurde es frisch im September. Larissa und er hatten nachmittags noch in kurzer Hose und T-Shirt hier gesessen, doch dafür war es jetzt zu kühl. Er mochte diese Jahreszeit und die ganzen Tätigkeiten, die damit einhergingen. Er hatte Heizöl für den Winter bestellt und im Baumarkt als einer der ersten Streusalz und Granulat gekauft und im Schuppen verstaut. Ihren Komposthaufen hatte er
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