1731 - Der Zwitter
gehen.
»Ich möchte dir noch sagen, dass auch unser Leben nicht ganz einfach gewesen ist. Aber wir haben es immer wieder geschafft, und ich denke, dass wir es auch jetzt schaffen werden.«
Das glaubte Kim nicht, denn er sagte: »Du weißt nicht, auf was ihr euch einlasst.«
»Stimmt. Aber manchmal kann es auch sehr spannend sein.« Carlotta lächelte. »Also Kopf hoch.«
Danach verließ auch sie das Zimmer. Nur verschwand dabei das Lächeln auf ihrem Gesicht…
***
Maxine Wells wartete an der offenen Tür zum Wohnzimmer auf das Vogelmädchen. Selbst in der schwachen Flurbeleuchtung war die Anspannung auf ihrem Gesicht zu sehen.
»Auf was haben wir uns da eingelassen?«, fragte sie leise. »Wenn ich das alles richtig begriffen habe, werden wir es hier mit übermächtigen Gegnern zu tun bekommen.«
»Das befürchte ich auch.«
»Hast du Kim darüber aufgeklärt, wer du wirklich bist und was du kannst?«
»Nein, um Himmels willen. Ich sah keinen Grund, ich will alles so belassen.«
»Sehr gut.«
Carlotta strich durch ihre blonden Haare. Das Gesicht mit den fein geschnittenen Zügen zeigte Skepsis. »Glaubst du ihm denn alles?«, fragte sie.
»Welchen Grund hätte er denn, uns Lügen aufzutischen?«
»Ja, stimmt. Aber wir kennen ihn nicht, da kann er uns noch so viel erzählen. Möglicherweise gehört er zur anderen Seite, und wir beschützen den Falschen.«
»Das will ich nicht hoffen.«
»Man muss sich auf alles einstellen«, meinte Carlotta. »Bleibt es denn bei unserem Plan?«
»Ich denke schon. Eine nimmt sich die Rückseite vor, die andere die vordere. Ich denke, dass wir jeder ein Fernglas nehmen, um auch den Himmel besser beobachten zu können. Wir müssen damit rechnen, dass sie ebenfalls von oben kommen.«
»Das glaube ich auch.« Carlotta drehte den Kopf und schaute in Richtung Gästezimmer. »Ich hoffe nur, dass Kim mitspielt.«
»Das wäre in seinem Interesse.«
»Dann nehme ich mir die Rückseite vor.«
Dagegen hatte Maxine nichts, beide lächelten sich noch aufmunternd zu. Keine wollte zugeben, dass sie von einer inneren Erregung erfasst war.
So trennten sie sich und gingen in verschiedene Richtungen davon. Maxine lief auf die Haustür zu. Sie wollte sich in einem der daneben liegenden Räume aufhalten und hatte bei sich mit dem Gedanken gespielt, ihren Platz in der an dem Haus angebauten Praxis zu suchen, als alles anders wurde. Sie kam auch nicht mehr dazu, die Ferngläser zu holen, denn auf dem halben Weg zur Haustür schlug plötzlich die Türglocke an.
Es war kein unbedingt lautes Geräusch, und doch zuckte die Tierärztin wie unter einem Schlag zusammen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Um diese Zeit ein unangemeldeter Besuch, das war nicht die Regel.
Zudem hatte sie keinen Notdienst, was hin und wieder mal vorkam. Dann standen die Menschen mit ihren Tieren vor der Tür, die urplötzlich krank geworden waren oder sich verletzt hatten.
Maxine stellte fest, dass ihr Herz schneller klopfte und sie auch einen Druck im Magen verspürte. Das Atmen fiel ihr nicht so leicht wie sonst. Sie überlegte, wie sie sich verhalten sollte. Öffnen oder Carlotta Bescheid geben?
Maxine gab sich einen Ruck, und damit war auch ihre Entscheidung gefallen.
Sie wollte öffnen.
Noch immer innerlich zerrissen näherte sie sich der Tür. Man konnte sie nur spaltbreit öffnen, denn da wurde sie von einer Kette gehalten.
Auf diese Sicherheit verließ sich Maxine, als sie die Tür aufzog und einen Blick nach draußen warf.
Sie sah nichts.
Aber es hatte jemand geklingelt. In der nächsten Sekunde hörte sie eine schwache Stimme, die nur einen Satz sagte: »Hier bin ich…«
Die Tierärztin senkte den Blick – und bekam große Augen, denn vor der Tür stand ein Kind, ein kleiner Junge…
***
Damit traf Maxine Wells auf eine Situation, mit der sie keinesfalls gerechnet hatte. Sie war zunächst nicht fähig, etwas zu sagen, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie fand wieder zu sich und versuchte, einen besseren Blick auf den Jungen zu bekommen. Sie musste nach unten schauen.
Der junge Besucher sah normal aus. Er war etwa zehn Jahre alt. Seine Haare waren braun und wirkten irgendwie ungebändigt. Er trug ein kariertes Hemd und eine lange Hose. Seine Füße steckten in weichen Sneakers.
Maxine rang sich ein Lächeln ab, bevor sie fragte: »Und jetzt? Was willst du?«
»Ich habe mich verlaufen.«
Die Erklärung konnte stimmen, musste aber nicht. Maxine dachte an Kims Warnung, aber
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