Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
177 - Im Reich der Hydriten

177 - Im Reich der Hydriten

Titel: 177 - Im Reich der Hydriten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
Vom Netzwerk:
Wochen verdunkelten schwarze Wolken und ihre Güsse das Land, sieben Wochen brauste die Sintflut um unser Schiff, dann legte sich der Sturm, der Himmel hellte sich auf, der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Die Sintflut nahm ein Ende.«
    Utna’pischti verstummte, neigte den Kopf auf die Schulter und lauschte. Wieder stöhnte und ächzte die Gebärende. Es war die jüngste seiner Frauen; sie gebar zum ersten Mal. Alle lauschten sie, doch wieder keine Schritte zwischen den Zelten, die den Boten der guten Nachricht angekündigt hätten. Das Stöhnen legte sich, die Wehe war vorüber. Utna’pischti fuhr fort zu erzählen.
    »Da öffnete ich die Außenluke und nahm den neuen Tag in Augenschein. Die Glut der Sonne fiel auf meine Wangen, und ich sah: Wie ein Hausdach, so flach lag das geflutete Land, wohin ich auch blickte. Bis zu den Horizonten reichte das Wasser. Tierkadaver und Leichen Ertrunkener trieben auf ihm, und über allem lag ein entsetzliches Schweigen. Da warf ich mich auf die Knie und weinte laut…«
    Ein Kind begann zu jammern, seine Mutter entblößte ihre Brust und legte es an. Einige größere Kinder schluchzten, andere saßen mit offenen Mündern und feuchten Augen. Man hätte eine Gänsefeder fallen hören, so still war es in diesen Minuten im Zelt des Patriarchen.
    Utna’pischti fuhr fort.
    »So vergingen ein paar Tage, die Sonne ging auf, die Sonne ging unter, und wir glaubten, in dieser Welt seien wir die einzigen noch Lebenden, auf die sie herab schien. Ich öffnete das Tor und trat auf das Außendeck. Wasser, wohin ich blickte. Kein Berggipfel, kein Baumwipfel, keine Spitze eines Tempels, überall lehmiges Wasser und sonst nichts. Ich sandte Vögel aus, um Land zu finden, und als der Wasserspiegel endlich sank, verbrannte ich Weihrauch auf dem Außendeck…«
    »Warum hast du Weihrauch verbrannt, Utna’pischti?«, fragte einer seiner kleinen Enkelsöhne.
    »Um den Göttern ein Opfer zu bringen«, antwortete Utna’pischtis älteste Frau. »Um sie durch den Duft des Weihrauchs aus ihrem Himmelstempel zu locken, damit sie herabkommen und uns beim Wiederaufbau der Welt helfen sollten.«
    »Nein«, widersprach Utna’pischti. »Das sinkende Wasser gab nach und nach eine Schlammwüste frei, und aus dem Schlamm ragten die Glieder unzähliger Leichen und Tierkadaver, die entsetzlich stanken.« Er sah seine älteste Frau an. »Deswegen verbrannten wir Weihrauch.«
    »Es kamen also keine Götter vom Himmel herab?«, fragte ein kleines Mädchen. Seine Stimme klang enttäuscht.
    »O doch!«, behauptete Utna’pischtis älteste Frau. »Alle kamen sie, mehr als wir kennen! Sie bedeckten den Schlamm und die Toten…!«
    »Das waren keine Götter«, unterbrach der Patriarch seine Frau. »Das waren Fliegen. Wie eine schwarze summende Decke wogten sie über dem Schlamm und den verwesenden Leichen.«
    Die Gebärende stöhnte laut und rhythmisch. Alle lauschten erschrocken. Immer lauter wurde das Gestöhne. Die Kinder sperrten Augen und Münder auf, die jungen Frauen zogen die Schultern hoch, die älteren Frauen runzelten besorgt die Stirn. Im Nachbarzelt brüllte Utna’pischtis jüngste Frau ihren Schmerz hinaus.
    Schließlich ein lang gezogener Schrei, und danach ein paar Seufzer, und dann endlich das Wimmern eines Neugeborenen.
    Ein Aufatmen ging durch die Menschen im Zelt des Patriarchen. Die Mienen hellten sich auf. Einige Kinder und junge Mädchen klatschten in die Hände.
    Utna’pischti lauschte aufmerksam. Endlich Schritte. Eine seiner Nichten erschien am Zelteingang. Sie hielt ein quäkendes, in Felle gewickeltes Bündel auf dem Arm.
    Die Menschen im Zelt rutschten zusammen, sodass eine Gasse entstand und die Frau zum Patriarchen gehen konnte.
    Sie beugte sich zu ihm hinab und legte ihm das Bündel in die Arme. »Hier«, sagte sie mit vor Freude bebender Stimme. »Dein jüngster Sohn, Utna’pischti!«
    Mein letzter Sohn , dachte Utna’pischti. Er betrachtete das zerknitterte Würmchen in seinem Arm, Tränen stiegen ihm in die Augen. Ramyd’sam wusste, dass Utna’pischti nicht mehr lange leben würde. »Er soll Gilamesh heißen«, sagte er. Und dann, leiser: »In dir, Gilamesh, werde ich weiterleben.«
    ***
    Atemlos hing Matt außen am Bordrand des Schlauchbootes. Die Wogen schlugen über ihm zusammen. Er hatte sie nicht gezählt, die vergeblichen Versuche, das Boot umzudrehen. Irgendwie hatte er es dann doch geschafft. Jetzt schöpfte er Atem und Kraft, um hineinklettern und seine

Weitere Kostenlose Bücher