1774 - Ranjas Rudel
Züge. Er dachte an sein Alter. Jetzt war er fünfundvierzig Jahre alt. Genau die Grenze hatte er erreicht, um neu anfangen zu können, und er würde alles daransetzen, dass er diesen Job auch bekam.
Zwei Wochen sollte die Intensivausbildung dauern. Danach ging es aufs Schiff, und er war schon jetzt gespannt, wohin ihn die erste Reise führen würde.
Im Zug oder im Abteil war es nicht ruhig. Irgendetwas bewegte sich immer. Es knarrte und quietschte und der Wagen bewegte sich oft genug leicht schlingernd, was sich auch auf die Abteile übertrug.
Alles war klar. Alles lief wie immer, und auch der Schaffner erschien.
Es war ein kleiner Mann mit dünnem Oberlippenbart, der stumm grüßte, sich dann die Fahrkarte anschaute und nichts zu beanstanden hatte. Er wünschte eine gute Reise und gab Toby Bell die Karte zurück.
Er war froh, wieder allein zu sein. So konnte er seinen Gedanken nachgehen und auch ein wenig über seine Zukunft sinnieren.
Dazu kam er nicht mehr.
Jemand erschien im Gang und blieb vor der Abteiltür stehen. Toby Bell drehte den Kopf.
Es war eine recht große Frau, die dort stand. Dunkelhaarig und ganz in Schwarz gekleidet. Eine Hose, eine Lederjacke, die offen stand, sodass ihr ebenfalls schwarzes Top zu sehen war. Das Gesicht wirkte etwas blass, und die leicht schräg stehenden Augen zeigten an, dass in den Adern der Frau asiatisches Blut floss.
Toby Bell wusste nicht, was er denken sollte. Er wünschte sich keine Gesellschaft. Auf der anderen Seite aber wäre so eine exotische Begleitung nicht schlecht gewesen, sie hätte ihm möglicherweise einiges von der großen weiten Welt erzählen können, die er bald erleben würde.
Die Frau bewegte ihren Arm, sodass sie den Türgriff draußen umfassen konnte.
Ein kurzer Ruck, die Tür öffnete sich und die Frau hatte freie Bahn.
Nach einem Schritt hatte sie das Abteil erreicht und beugte sich nach einem Nicken leicht vor.
»Hier ist noch alles frei?«
»Ja.«
»Dann werde ich Ihnen Gesellschaft leisten.«
»Tun Sie das.«
»Danke, das ist nett.« Die Frau betrat das Abteil und ließ sich Toby gegenüber nieder. Der wunderte sich, dass sie die Tür nicht hinter sich geschlossen hatte.
Den Grund dafür bekam er bald zu sehen.
Zuerst hörte er den Pfiff. Dann war auf dem Gang ein undefinierbares Geräusch zu hören, und plötzlich huschten noch andere Reisebegleiter in das Abteil.
Toby Bell riss den Mund auf. Er wollte einen Schrei ausstoßen, was er nicht schaffte. Er blieb starr hocken und schaute auf seine neuen Begleiter.
Es waren vier Schäferhunde, die sich in das Abteil hineingedrängt hatten.
Oder waren es Wölfe?
***
Toby Bell kam sich vor wie im falschen Film. Er wollte einfach nicht glauben, was er sah, doch als sich ein Körper gegen sein Bein drängte, da wusste er, dass er keinen Traum erlebte.
Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert und er atmete heftig durch den offenen Mund.
Die Frau tat, als wäre es das Normalste der Welt, vier Hunde mit in ein Abteil zu nehmen. Sie stieß einen leisen Pfiff aus und sorgte dafür, dass sich die Tiere in ihrer Nähe zusammendrängten. Sie ließen sich auf dem Boden nieder. Kein Hund sprang auf den Sitz, und es war auch kein bedrohliches Knurren zu hören.
Die beiden Menschen saßen sich gegenüber. Sie schauten sich in die Gesichter. Während das des Mannes starr blieb, lächelte die Frau und sagte: »Du solltest dich entspannen.«
»Ha...« Er lachte kieksend. »Wie kann ich mich entspannen, wenn ich vier Hunde hier in meiner Nähe weiß?«
»Sie tun dir nichts.«
»Das sagt jeder von seinem Hund. Dann liest man in den Zeitungen andere Dinge, dass wieder mal ein Kind von einem Hund totgebissen wurde.«
»Ja, das ist tragisch.« Eine Hand streichelte das Fell der Tiere. »Sehr tragisch sogar. Aber ich ziehe mir das beim besten Willen nicht an. Das hier sind nämlich keine Hunde.«
»Ach? Was dann?« Toby Bell fing an zu lachen. »Sind das etwa Wölfe?«
Die Frau blieb ernst, als sie nickte und dann sagte: »Ja, es stimmt. Es sind Wölfe...«
***
Toby Bell war zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit geschockt. Er hatte etwas antworten wollen, doch ihm kam nichts in den Sinn, was gepasst hätte.
Normalerweise hätte er die Frau ausgelacht oder alles abgestritten, doch das war nicht drin. Er bekam den Mund nicht auf. Dafür starrte er das Gesicht der Frau an und erinnerte sich daran, dass er das Heulen gehört hatte, als er auf der Bank gehockt und gewartet hatte.
Die Frau
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