1784 - Geisterauge
ich die Hälfte der Strecke überbrückt.
Das Licht stammte von einer Leuchte an der Wand. Es traf mich und auch Sarah Lane, aber sie gab mit keiner Geste zu verstehen, dass sie mich gesehen hatte.
Nach wie vor hielt sie den Kopf gesenkt und schaute dabei auf die blutige Klinge. Ich frage mich, ob ihr überhaupt klar war, was sie getan hatte.
Ich wollte natürlich Kontakt mit ihr aufnehmen, aber ich ließ mir noch Zeit. Erst mal sollte sie mich bemerken, dann konnte ich immer noch handeln.
Ich räusperte mich.
Sarah zuckte zusammen.
Das sah ich schon als positiv an. Man ist manchmal mit dem Geringsten zufrieden. Aber sie schaute nicht hoch. Ihr Blick war nach wie vor auf die blutige Klinge gerichtet. Für andere Dinge hatte sie keinen Blick.
Ich traute mich und sprach sie an.
»Sarah?«, sagte ich mit leiser Stimme.
Sie schwieg.
Ich setzte zu einem erneuten Versuch an. Diesmal sprach ich den Namen lauter aus.
Jetzt bewegte Sarah ihren Kopf und schaute hoch. Allerdings sagte sie nichts. Dieses Schauen war für sie Reaktion genug.
Mir war klar, dass ich sehr vorsichtig vorgehen musste. Nur nichts überstürzen, ruhig bleiben, die andere Seite nicht provozieren.
»Hast du mich gehört?«
Ich kannte ihr Gesicht und konnte mir deshalb auch ein Urteil erlauben. Auf dem Dach hatte sie irgendwie vergeistigt ausgesehen, als wäre sie nicht mehr so richtig in der Welt. Das sah jetzt nicht mehr so aus. Das Gesicht zeigte einen bösen Ausdruck. Böse, auch verschlagen, hinterhältig, vielleicht auch hasserfüllt. Er passte zu dem Messer mit der blutigen Klinge.
Ich ließ mich nicht aus dem Konzept bringen. »Ich denke, wir kennen uns, Sarah.«
»Was?«
»Wir haben uns schon mal gesehen.«
»Wo?«
»Gestern. Erinnerst du dich?«
»Nein.«
»Darf ich dir helfen?«
»Nein.«
»Ich denke, dass wir reden sollten.«
»Wer bist du?«
»Ich heiße John.«
»Du gehörst nicht zu mir. Nicht in dieses Zimmer. Hau ab. Geh sofort.«
»Ja, das werde ich auch. Ich werde mit dir gehen, verstehst du? Nicht allein.«
Sie schaute wieder hoch. Aus ihrem Mund drang ein Zischen. Es hörte sich bösartig an. Dann spie sie aus. Als sie atmete, rasselte es. Sie kam mir ganz anders vor. Als wäre sie nicht allein auf dieser Welt. Als steckte etwas Dämonisches oder Teuflisches in ihr. Jemand hatte von ihr Besitz genommen, und das war das Furchtbare, denn dieser Jemand war alles andere als positiv. Er war einfach nur böse und grausam.
Ein Dämon – ja, das glaubte ich inzwischen. Einer, der sie beeinflusste, sie führte und dafür sorgte, dass sie die grausamen Taten beging. Etwas anderes kam mir nicht in den Sinn.
Und dann dachte ich an das Auge!
Bisher hatte ich es nicht wieder gesehen. Für mich stand fest, dass es viel mit dem Zustand des Mädchens zu tun hatte, wenn nicht sogar alles.
Sie starrte mich an. Ich konnte mir denken, dass sich hinter ihrer Stirn die Gedanken jagten. Bis auf das Zucken des Mundes blieb das Gesicht ausdruckslos. Am meisten irritierten mich die Augen. Sie hatten einen anderen Blick und auch ein anderes Aussehen bekommen, denn sie sahen jetzt gelblich-grün aus, und diese Farbe erinnerte mich wieder an das Auge in der Luft.
Ob das die Lösung war, konnte ich nicht sagen, aber ich fühlte mich nahe daran.
Ein unwirsch klingender Laut löste sich aus der Kehle des Mädchens. Es war so etwas wie ein Startlaut. Damit hatte sich Sarah selbst die nötige Kraft gegeben. Mit einem Ruck stand sie auf, zugleich hatte sie den rechten Arm mit dem Messer in die Höhe gerissen. Die Spitze zeigte jetzt auf mich.
Ich hielt für einen Moment den Atem an, denn dieses Bild sah schlimm aus. Jetzt erkannte ich, dass sie beim Mord an ihren Eltern auch etwas von deren Blut abbekommen hatte, denn auch ihre Kleidung zeigte an einigen Stellen diese rostbraune Farbe.
»Geh – geh endlich weg!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Du gehörst nicht hierher!«
»Du denn?«
»Ja, ich wohne hier.«
»Aber nicht allein. Du lebst hier mit deinen Eltern.« Ich entschied mich für die Schocktherapie. »Aber jetzt auch nicht mehr, denn du hast sie umgebracht.«
Sarah riss den Mund auf. Ich rechnete mit einem scharfen Lachen, doch es wurde nur ein Glucksen. Mit der freien Hand fuhr die durch ihr Haar.
Und dann ging sie noch einen Schritt vor. »Du sollst gehen. Wenn du das nicht tust, steche ich dir die Kehle durch.« Die Worte waren so intensiv gesagt worden, dass ich ihr ohne Weiteres glaubte.
»Ich werde nicht allein von
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