1792 - Die Nachtjägerin
immer es auch sein mag – durch eine Leichenhalle? Ich beschäftige mich mit den Toten. Ich liebe sie, ich mag sie, ich …« Sie schüttelte heftig den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken loswerden, was sie nicht konnte, denn die Erinnerung war zu deutlich.
Was hatte sie bei den Toten gewollt?
Irina wusste es nicht. Sie ärgerte sich nicht nur darüber, es machte ihr auch Angst. Die Toten waren eine schreckliche Hypothek. Wenn es wenigstens welche gewesen wären, die sie gekannt hätte. Aber das war es nicht. Diese Toten waren ihr unbekannt und völlig fremd. Warum dann ihre Nähe?
Sie hatte keine Ahnung, aber sie musste es akzeptieren. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie eine derartige Reise hinter sich hatte. Sie wiederholte sich immer und immer wieder, und genau das war das Schlimme. Sie konnte auch nicht sagen, wann die Träume auftraten, das ging plötzlich los.
Oder waren es keine Träume?
Genau das war die Frage. Es mussten nicht unbedingt Träume sein, denn so intensiv konnte die Frau sich einen Traum nicht vorstellen.
Sie hatte jetzt einen anderen Ausdruck gefunden. Für sie waren sie Erlebnisse. Ja, weg von den Träumen, hin zu echten Erlebnissen. Das musste die Wahrheit sein.
So weit kam sie des Öfteren mit ihren Überlegungen. Dann aber fragte sie sich, wie es weitergehen würde, und da hatte sie schon Probleme, eine richtige Antwort zu finden.
Sie musste sich mit den Erlebnissen abfinden. Keine Träume mehr. Sie selbst löste sich in der Nacht und während des Tiefschlafs aus diesem Raum, und war dann unterwegs.
Aber als was?
Als normaler Mensch? Ja, als Mensch schon, aber nicht mehr als ein normaler.
Irina Dark hatte lange nach einer Antwort gesucht und auch eine für sich gefunden, die sie allerdings nur halbherzig akzeptierte.
Schlafwandlerin!
Das war für sie die Lösung. Zumindest eine vorläufige. Ja, sie schlief und bewegte sich trotzdem durch die Welt. Und dann ging sie los und suchte die Toten.
Das war verrückt. Das war nicht akzeptabel. Und doch musste es dieses Schlafwandler-Syndrom sein, etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen. Das wollte sie zudem nicht. Es hätte sie nur noch mehr durcheinander gebracht.
Allmählich zogen sich die Folgen der Nacht zurück. Es ging ihr wieder besser.
Tiefes Durch- und Aufatmen. Der neue Tag lag vor ihr. Sie wollte versuchen, die Erlebnisse der vergangenen Nacht zu vergessen, aber das würde schwer werden. Dennoch konnte sie sich nicht hängen lassen. Sie musste in den Job, Urlaub konnte sie nicht nehmen, wie sie es schon mal gemacht hatte. Eine Kollegin war krank und musste vertreten werden.
Irina Dark stieg aus dem Bett. Sie ließ ein schweißfeuchtes Betttuch zurück. Es ärgerte sie, aber es war auch nicht zu ändern, und so ging sie die wenigen Schritte bis zur Tür und trat hinein in den kleinen Flur.
Es gab eine Tür, die ins Bad führte.
Irina stolperte fast hinein. Sie schaute erst in den Spiegel, als sie das Licht eingeschaltet hatte, und sah eine Frau, die wahrlich nicht erholt aussah.
Der Spiegel war gnadenlos. Er zeigte jede Spur in ihrem Gesicht, und da sie in zwei Jahren vierzig Jahre alt wurde, war das auch recht deutlich zu sehen.
Falten, Flecken, hinzu kamen rötliche Hautstellen. Haare, die wirr auf dem Kopf wuchsen. Sie waren noch dunkel und auch nicht gefärbt.
Es gab eine kleine Dusche. In sie stieg die Frau hinein, nachdem sie ihre Kleidung abgelegt hatte. Es tat ihr immer wieder gut, sich den Strahlen hinzugeben.
Sie konnte sogar lächeln, als sie unter der Dusche stand. Sie wollte mit der Nacht abschließen.
Sie drehte das Wasser ab.
Dann stieg sie aus der Dusche.
Alles geschah wie immer. Es war nichts Neues dabei, und doch hatte die nackte Frau den Eindruck, dass etwas passieren würde und sie auch nicht mehr allein war.
Schnell griff sie nach dem Badetuch und hängte es sich über. Das war okay, auch die Gänsehaut verschwand. Im Bad sah sie nichts, im Spiegel malte sie sich nur schwach ab. Deutlich war sie nicht zu sehen, weil ein großer Teil der Fläche beschlagen war.
Irina wischte große Teile von ihm frei. Sie musste sich sehen, wenn sie die Haare durchkämmte und …
Etwas stimmte nicht.
Den Grund dafür sah sie nicht, aber er war schon vorhanden. Irgendjemand wollte was von ihr, das spürte sie deutlich.
Aber wer? Und wo?
Ihr Blick fiel wieder in den Spiegel, und da schrie sie auf. Sie sah die zweite Person im Spiegel. Aber das war nicht ihr Spiegelbild und trotzdem war sie
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