18
Ich sah, wie der Direktor sich auf Timothy und Ann und das Industriellenehepaar zu bewegte und alle mit vornehmen Bewegungen die Weltlage besprachen. Schließlich löste Timothy sich aus der Gruppe und sprang mit einer eleganten Beinbewegung auf die Bühne. Alle Blicke richteten sich auf ihn und seinen Leinenanzug. Im Saal wurde es etwas leiser und er ließ den Bick so lange schweifen, bis es beinahe still wurde. Onkel Hank machte sich davon.
Ich betrachtete Wiebke neben mir. Sie hatte sich etwas geschminkt. Ich war wohl der letzte ohne Freundin aus der Gruppe. Ich überlegte, ob Wiebke die Letzte ohne Freund war.
„Ist es Zufall, dass wir nebeneinander stehen?“, fragte ich Wiebke.
„Wer kann schon sagen, was alles Zufall im Leben ist“, erwiderte sie.
„Fährst Du gerne Auto?“, fragte ich.
„Die Hauptstraße mit dem glatten Asphalt. Erlaube dir so etwas nie wieder.“
„Und Kombi?“
„Auch Kombi.“
„Es wird schwer, sich heute nicht zu betrinken“, sagte ich.
„Komm nicht auf den Gedanken, mich nach Hause zu fahren. Ich schlafe auch nicht in Kombis auf Parkplätzen oberhalb von Badeseen“, sagte sie beiläufig.
Ich schaute sie schnell an, doch sie blickte geradeaus zur Bühne, wo Timothy mit dem Mikrofon spielte.
„Alles verrückt“, sagte ich.
Timothy redete auf der Bühne von der Tradition der Schule, von der Tradition des Sommerfestes und von Traditionen allgemein. Im Prinzip ging die Welt vor die Hunde ohne Tradition. Ich beobachtete Ann über einige Köpfe hinweg. Sie schaute unbewegt. Neben ihr standen jetzt noch zwei weitere vornehme Herrschaften. Ihre eigenen Eltern. Der Mann hatte Ähnlichkeit mit Pat oder umgekehrt. Wahrscheinlich wurden nachher noch die Hochzeitsfeierlichkeiten besprochen. Alle klatschten Beifall und Timothy übergab gekonnt an den Direktor.
„Alessandra hält gleich auch noch eine Rede“, sagte Wiebke.
„Das ist so.“
„Man erzählt Sachen über euch“, fuhr sie leise fort ohne mich anzusehen.
„Badeseen und Parkplätze“, erwiderte ich.
„Nein. Das nicht. Noch nicht. So etwas würde mir keine Sorgen machen“, erwiderte sie und schaute mich dann lange an. Dann trank sie ihr Bier in einem Schluck aus und hörte konzentriert dem Direktor zu. Ich wedelte der Bedienung zwecks eines weiteren Gratis-Bieres für uns zu. Der Direktor bedankte sich am Mikrofon für die freundliche Einleitung und hob hervor, dass Timothy seit langen Jahren die Feste organisiert hatte und dass nie etwas schief gelaufen sei, und man gar nicht wisse, wie man ohne ihn zurechtkäme. Ich dachte an den letzten Mofa-Auftritt, und mir wurde etwas schwindelig. Der Direktor wechselte dann auch zum Thema Tradition. Seine Stimme schallte durch den Raum, sein Mund ging auf und zu, seine Arme ruderten durch die Luft, er nickte bis in die letzten Winkel der Aula, freute sich, und ruderte wieder zurück. Der Rektor redete eine halbe Stunde lang. Er lobte die lokale Presse. Mein Name als Organisator wurde nicht erwähnt.
Das Licht in der Aula wurde schwächer und einzelne Scheinwerfer hoben den Direktor hervor. Dann klatschten alle Beifall, und ein Herr mittleren Alters betrat die Bühne und stellte sich als Schulrat vor und haspelte eine Rede herunter, nicht halb so gut wie der Rektor. Am Schluss der Rede hielt er ein Plakat hoch, das die vergrößerte Fotokopie eines Schecks darstellen sollte. Es sah aus wie bei der Stadtsparkasse, wenn der neue Kinderspielplatz eingeweiht wird. Alle klatschten wie irrsinnig. Alessandra holte ein paar Seiten Papier hervor und verschwand Richtung Bühne.
Ich löste mich von Wiebke und schlenderte zum Ausgang. Ich lief über den leeren Schulhof, bis ich vor der Doppeltür stand, die in die Aula führte. Mit dem Generalschlüssel öffnete ich und lauschte hinein. Alessandras erste Worte waren: „Ich möchte heute nicht über Tradition reden.“ Und der Rest des Satzes ging im allgemeinen Gelächter unter. Sie redete stattdessen von Kultur, den Aufgaben von Kultur, Aufrütteln, Toleranz.
Ich hörte ein Knattern hinter mir, und Pat kam auf seiner Kreidler Flori angebraust.
„Bin ich zu spät?“, fragte er und hielt in einiger Entfernung. „Sind meine Eltern da? Ich habe ihnen gesagt, dass ich heute einen überzeugenden Auftritt haben werde.“
Ich öffnete die Türe weit und schaute nach, ob Onkel Hank innen stand. Er hatte Wort gehalten. Ich lief zu Pat, setzte mich hinter ihn und er entrollte eine rote Fahne, auf der ein schwarzes A in einem
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