181 - Der ewige Turm
Haut, Ballaya spürte keinen Schmerz.
Hinter sich hörte sie Schreie. Sie kamen von der Lichtung.
»Sie werden ihn töten«, keuchte sie. Der Hass sprengte ihr schier die Brust. »Sie töten ihn…« Als sie die Hecke überwunden hatte, richtete sie sich auf und spurtete zwischen Büschen, Farnfeldern und hohem Gras dem Wald vor dem Turm entgegen. Sie schwor sich, ihren Geliebten zu rächen, sollte sie jemals lebend aus dieser Wildnis entkommen.
Bald tauchte sie in den Wald ein. Hier herrschte noch nächtliche Dunkelheit, so dicht war das Laubdach. Auf einmal richteten sich drei Schatten vor ihr auf.
Breitschultrige Gestalten mit langen Schädeln. Ballaya hob den Dolch, ihre Knie drohten nachzugeben, ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Zwei, drei Atemzüge lang verharrten sie vor der jungen Frau mit dem erhobenen Dolch – die dunklen Gestalten.
Dann packte von hinten eine kräftige Pranke Ballayas Handgelenk. Der schmerzhafte Griff öffnete ihre Finger, und der Dolch fiel ins Unterholz. Ein stark behaarter Arm legte sich um ihren Hals und unter ihr Kinn. Als wäre sie eine Garbe Gras, packte sie der Orangu und legte sie über seine Schulter.
***
Staunend sah Rulfan sich um. Viele Ruinen der Alten hatte er in seinen fast sechzig Wintern gesehen, doch nur wenige, die noch so viel Ahnung von einstiger Schönheit und Pracht ausstrahlten wie die Moscherune. Der Doppelturm in Coellen erschien ihm dagegen als zerklüfteter schwarzer Felsbrocken.
Mit den Fingerspitzen strich er im Vorübergehen über die Säulen, die das Dach einer Art offenen Halle trugen.
Der Stamm, zu dem die Fischer gehörten, bezeichnete die Halle als »Innenhof«. Arkadenbögen spannten sich an ihrem Rand von Säule zu Säule. Nach drei Seiten trat man aus dem Innenhof zwischen den Arkaden hindurch direkt in einen großen Garten, den ein Wäldchen umgab.
Das wiederum war mitsamt des ganzen Gebäudekomplexes von einer hohen Mauer eingefriedet.
Eine Seite des Innenhofes führte in eine große Halle.
Rulfan vermutete, dass man in ihr einst irgendeinen Gott verehrt hatte. Auch hier trugen Säulen das Gebäude, auch hier gab es Galerien und einen Rundgang, der das Zentrum der Halle umgab, deren Kuppeldach sich fast zwanzig Meter über dem mit Mosaikarbeiten verzierten Boden erhob. Die Fenster, so weit sie nicht mit Holz oder Stein geflickt waren, bestanden aus buntem Glas. Als Rulfan die Halle betrat, flutete die Abendsonne sie mit einem atemberaubend schönen Farbenspiel.
Ein blutjunger Jäger war aus der Ruinenwildnis zurückgekehrt. Die Männer des Stammes hatten ihn am Morgen in einer Region als Späher zurückgelassen, die sie »Todesdreieck« nannten. Er sollte das weitere Schicksal der Jungfrau auskundschaften, die man dort an einen Stein gefesselt hatte.
»Jemand hat ihre Fesseln durchgeschnitten.« Der Junge sprach hastig. Schrecken und Angst flackerten in seinem Blick. »Ich glaube, es war Charlondo.« Ein Raunen ging durch die Menge, die sich in der Moscherunenhalle versammelt hatte. »Ballaya ist geflohen, Charlondo haben die Turmherren getötet.«
»Bist du sicher?«, fragte der Scheiko.
»Nein. Ich sah aber, wie sie seinen leblosen Körper über die Lichtung trugen.«
»Ich will wissen, ob du sicher bist, dass Ballaya fliehen konnte«, herrschte der Scheiko den Jungjäger an. Der nickte hastig. »Und sie haben sie nicht wieder eingefangen?«
»Ich weiß es nicht, ich sah nur, wie die Kämpfer des Kometenfürsten in den Wald eindrangen, um nach ihr zu suchen.«
»Wie konnte Charlondo so etwas tun?«, krähte die Älteste. »Sämtliche Mädchen werden sie nun holen! Den Stamm werden sie nun ausrotten! Wie konnte Ballaya sich nur hinreißen lassen?«
Der Scheiko wandte sich ab, sein Blick war finster. »Wir können nur hoffen, dass Reezars Jäger sie finden«, hörte Rulfan ihn raunen.
»Dann wäre es besser, die Affen würden sie fressen!«
Eynaya weinte laut und schlug die Hände vors Gesicht.
Sayona und Ruulay legten die Arme um ihre Schultern.
Ihre Gesichter waren aschfahl und leer.
»Was redest du!«, fauchte die Älteste sie an. »Denkst du gar nicht an den Stamm? Besser eine stirbt im ewigen Turm als alle anderen in der brennenden Mosherune!«
»Wir suchen sie!« Halil riss sein kurzes Schwert aus der Scheide. »Und wenn wir sie gefunden haben, dringen wir in den verfluchten Turm ein und töten die Räuberbande!«
Alle verstummten, an die hundert Augenpaare richteten sich auf den fremden Jungen. »Du weißt nicht,
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