1811 - Der Vogelmensch
noch zu kriechen hatte. Weit konnte es nicht sein. Vielleicht noch zweimal die Beine nachziehen, dann hatte sie es geschafft.
Sie hielt an, um sich zu erheben. Auch jetzt wollte sie dabei behutsam zu Werke gehen und den Bogen nicht überspannen.
Das linke Bein ließ sich normal bewegen.
Es folgte das rechte.
Und das klappte nicht.
In der Bewegung wurde es gestoppt. Carlotta spürte in Höhe des rechten Fußknöchels einen harten Ruck und wusste plötzlich, dass ihre Flucht beendet war, noch bevor sie begonnen hatte …
***
Sie hätte schreien können, aber das hätte ihr nichts eingebracht. Es lag auf der Hand, dass die andere Seite gewonnen hatte. Sie hatte mit ihr gespielt, das stand fest.
Sie lag nicht mehr, sie kniete. Der Wind von außen strich ihr durch das Gesicht. Es war wie ein Gruß aus der Freiheit, die so nah lag und doch so unerreichbar fern war.
Sie war angekettet worden. Und die Kette gab ihr genau den Spielraum, den sie brauchte. Innerhalb des Höhlengefängnisses konnte sie sich bewegen, aber das war auch alles. Raus kam sie hier nicht. Zumindest nicht aus eigener Kraft. Daran ändern konnte sie nichts, auch nicht, als sie mit der Handfläche über die Kette strich und die einzelnen Glieder fühlte.
Man spielte mit ihr. Man gab ihr Hoffnung, um diese dann brutal zu zerstören.
Hier war das Ende. Weiter kam sie nicht. Sie konnte an der Freiheit schnüffeln, das war auch alles. Sie spürte die Kälte, sah den dunklen Himmel, sah einige Sterne leuchten. Es gab nichts, was ihr Hoffnung auf Rettung hätte geben können. Sie war hier gefangen wie ein Vogel in einem Käfig.
Aber sie war kein Vogel. Sie wollte keiner sein. Auf keinen Fall wollte sie zu diesen Tieren gehören, auch wenn sie Flügel hatte. Aber sie war ein Mensch, sie fühlte sich als Mensch, und das würde auch niemals vergehen, das stand fest. Dazu hatte sie schon zu lange bei ihrer Ziehmutter Maxine Wells gelebt.
Aber wer war ihr Entführer? Diese Frage musste sie sich auch stellen. Zuerst hatte sie ihn nur als einen Schatten wahrgenommen, der zu ihr gekommen war. Aus dem Schatten war eine Gestalt geworden. Ein Mensch und ein Vogel zugleich.
Ein Produkt, wie auch sie ein Produkt war. Ein Teil von ihr war im Labor entstanden, und der Mann, dem sie dies zu verdanken hatte, der hieß Professor Elax. Ob er auch das Schicksal des anderen Vogelmenschen gewesen war? So weit war das nicht von der Hand zu weisen, es konnte sein, dass zwei Probanden überlebt hatten, und einer davon hatte den anderen jetzt gefunden.
Carlotta wusste nicht, was sie denken sollte. Jedenfalls war nichts mehr so wie zuvor, und sie musste sich erst mal mit ihrem Schicksal abfinden.
Während ihrer Gedanken und Überlegungen hatte sie den Kopf gesenkt gehabt. Jetzt hob sie ihn wieder an und schaute über den Rand hinweg ins Freie.
Der Himmel war so nah.
Aber auch noch jemand anderer.
Das war er, der Schatten.
Ihr Entführer, der Vogelmensch!
***
Es war also so weit, und Carlotta war nicht mal überrascht. Sie hatte damit rechnen müssen, dass sie nicht allein bleiben würde. Er war da. Er war zurück, um seinen Triumph zu genießen.
Noch blieb der Schatten draußen. Er hatte einen Sichtausschnitt verdunkelt. Er stand in der Luft wie festgewachsen. Carlotta erkannte auch nicht, ob er in die Höhle hineinschaute oder ihr den Rücken zudrehte.
Wie lange er warten würde, wusste sie auch nicht, aber sie zog sich etwas tiefer zurück in die Höhle, als wollte sie ihm das Eindringen erleichtern.
Kaum hatte sie die kleine Aktion hinter sich, da setzte sich der Schatten wieder in Bewegung. Es war nur ein Zucken zu sehen, dann aber hatte er es geschafft.
Er war da.
Er hatte sich geduckt und war in die Höhle geflogen und dort auch gelandet.
Da stand er nun.
Und sie hockte. Aus ihrer Perspektive sah er übergroß aus. Noch immer war sein Schädel verdeckt. Sie sah die Maske und auch das Schimmern der Augen, das war alles.
Kein Laut drang ihr entgegen. Der mächtige Körper war von einem Stoff bedeckt, der ein bedrucktes Muster aufwies.
Oder war es die nackte Haut?
Ja, es schien die nackte Haut zu sein, aber darüber dachte sie nicht weiter nach. Sie sagte auch nichts und wollte warten, bis der Entführer mit der Sprache herausrückte.
Noch dauerte es. Der Besucher ließ sie erst mal schmoren. Er blieb auch nicht mehr so aufrecht stehen, sondern sackte etwas zusammen.
Die Flügel hatte er ebenfalls zusammengefaltet, aber er wirkte noch immer stärker
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