1811 - Der Vogelmensch
und sofort zur Sache kommen. »Was willst du?«
»He, welch eine Frage.«
»Wieso?«
»Ich habe angenommen, dass du dich zuerst nach deiner Carlotta erkundigt hättest.«
»Muss ich das denn?«
»Was denkst du?«
»Ich denke, dass sie lebt und dass du ihr nichts angetan hast. Oder irre ich mich?«
»Nein, du irrst dich nicht. Sie lebt, aber sie befindet sich in einem guten Versteck.«
»Und was willst du hier?«
»Etwas aushandeln.«
»Es geht also um sie?«
»Nicht nur, auch um mich.«
»Und wie?«
»Ja, da muss ich dir noch etwas zeigen, das für mich wichtig ist.«
»Und was?«
»Schau mich einfach nur an, dann wirst du es sehen. Alles andere erklärt sich dann.«
Die Tierärztin wusste nicht, was das sollte, aber sie sprach nicht dagegen. Sie musste der anderen Seite genügend Raum lassen. Deshalb sagte sie nichts mehr und ließ den Besucher agieren. Der hob seine Hände an und griff nach der Maske, die noch immer vor seinem Gesicht hing.
Er wollte sie abnehmen. Er brauchte sich vor Maxine nicht zu verstecken.
Er nahm sie auch ab.
Maxine schaute hin. Sie hatte sich vorgenommen, nicht zu reagieren. Das hatte sie vergessen, denn es war eigentlich unmöglich, was sie mit den eigenen Augen sah.
Der Mann vor ihr hatte den Kopf eines Vogels!
***
Es war ein Schock für sie, obwohl sie im hintersten Winkel ihres Gehirns damit gerechnet hatte. Aber damit so direkt konfrontiert zu werden, das war schon etwas anderes.
Der Vogelmensch saß da und tat nichts. Er ließ alles auf sich zukommen. Er war locker, entspannt, ließ aber die Tierärztin nicht aus den Augen.
Sie schluckte. Sie kaute auch, obwohl sie nichts im Mund hatte. Es war ihr nicht möglich, den Blick von dieser Gestalt zu nehmen. Sie konnte immer nur in das Gesicht starren, das nichts Menschliches mehr an sich hatte. Es bestand fast nur aus einem krummen Schnabel, der recht breit, aber auch lang war. Seine Farbe konnte man mit einem blassen Weiß umschreiben. Oder sie auch als bleich bezeichnen.
Vergleichbar mit einem Skelett.
Aber es gab noch mehr. Über dem Schnabel, der durch die Krümmung einen Mund verdeckte, gab es zwei Augen zu sehen. Keine Augen, die sich mit menschlichen vergleichen ließen. Sie sahen aus wie Kugeln, waren zudem starr und hätten auch als künstlich durchgehen können, aber daran glaubte sie nicht.
»Na, genug geglotzt?«
»Kann sein«, flüsterte Maxine, um dann eine knappe Frage zu stellen. »Wer bist du?«
»Das siehst du doch.«
»Ja, eine Mutation.«
»Stimmt irgendwie.«
Sie wollte auf ein bestimmtes Thema hinaus. Deshalb fragte sie: »Auch ein Erbe?«
»Das ist möglich …«
Die Antwort war ihr zu wenig, und deshalb sagte sie: »Du weißt, welches Erbe ich meine?«
»Ich bin mir nicht sicher. Sag es mir!«
»Das Erbe eines Professors, der Elax geheißen hat.« Sie war gespannt auf die Antwort und musste sich zunächst gedulden, weil er noch nichts sagte.
»Und?«
»Du kennst den Professor?«
»Du wirst ihn besser kennen.«
Er nickte. »Ja, ich habe ihn gekannt. Ich habe ihn sogar gut gekannt, und er kannte mich. Er mochte mich. Er hat mich immer auf seine Seite ziehen wollen.«
»Und? Hast du es getan?«
»Ja, denn er gab mir wahnsinnige Aussichten mit auf den Weg. Er wollte die Menschheit neu erfinden, aber so, wie er sie sich vorgestellt hatte.«
»Und wie?«
Der Vogelmensch schüttelte seinen Schädel. »Das muss ich dir nicht sagen. Du hast es bestimmt auch gesagt bekommen.«
»Nein, das habe ich nicht.«
Er sagte noch nichts und schien zu überlegen, ob es sich lohnte, noch einen Satz zu sagen. Dann hatte er sich entschieden und deutete so etwas wie ein Nicken an.
»Sein Traum war es, die Träume der Menschen wahr werden zu lassen. Nur daran hat er gearbeitet.«
»Aha. Und wie sahen die aus?«
»Das ist ganz einfach. Du kennst den Traum vom Fliegen, und den wollte der Professor den Menschen erfüllen, das ist alles.«
»Ja, sie sollten fliegen.«
»Genau, und bei einer Person hat er es geschafft. Sie war auf jeden Fall seine Beste.«
»Carlotta.«
»Ja.«
»Nur ist sie ihm entwischt«, sagte Maxine.
»Ja, das stimmt. Aber nun habe ich sie gefunden. Ich habe sehr lange suchen müssen, denn ich bin der zweite Proband des Professors, der überlebt hat. Oder auch der erste, denn ich bin ein Stück weiter als Carlotta. Ich bin mehr Vogel als Mensch.«
»Das ist schlimm«, flüsterte die Tierärztin.
»Nein, ganz und gar nicht. Ich habe mich daran gewöhnt und kann damit
Weitere Kostenlose Bücher