1811 - Der Vogelmensch
Wolken am Himmel, doch es gab eine gute Fernsicht. So würde sie schon von Weitem sehen können, wer sie besuchen kam.
Und sie sah etwas.
Zwar nicht stehend am Himmel, dieser Miniklecks bewegte sich und nahm auf das hohe Versteck Kurs.
Jetzt schlug ihr Herz schneller. Da kehrte jemand zurück, und dieser Rückkehrer war der Vogelmensch, eine andere Möglichkeit gab es für sie nicht.
Sie war gespannt. Ein wenig zog sie sich in das Innere der Höhle zurück, um ihm genug Platz zum Landen zu lassen. Er war auch recht schnell, schon bald erkannte Carlotta ihn überdeutlich, dann flog er die letzten Meter heran und erreichte den Einstieg.
Er duckte sich kurz und schwang sich in die Höhle hinein, in der Carlotta auf ihn wartete. Die Maske trug er nicht. Er zeigte jetzt sein Vogelgesicht mit dem leicht gekrümmten Schnabel, aber es war nicht zu erkennen, in welcher Laune er sich befand.
Er hatte die Höhle betreten, blieb vor ihr stehen und senkte den Kopf, bevor er sie ansprach.
»Du hast Glück gehabt.« So lautete der erste Satz, und Carlotta hörte sich innerlich aufatmen.
Sie flüsterte die Frage. »Inwiefern?«
»Was deine Ziehmutter angeht. Da hast du wirklich mehr als Glück gehabt. Sie hat sich nicht gegen mich gestellt.«
»Was hat sie denn getan?«
»Sie ist auf meine Vorschläge eingegangen. Ich kann ab heute auch bei ihr wohnen.«
»Wie?«
Er wiederholte den Satz. Carlotta schloss für einen Moment die Augen. Was sie da gehört hatte, das hatte sie zunächst nicht glauben können, und deshalb fragte sie noch mal nach.
»Du kannst bei uns wohnen?«
»Ja. Sie hat es mir angeboten.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.«
»Aber – aber – du musst dich doch entschlossen haben.«
»Das habe ich auch.« Der Vogelmensch lachte. »Ich habe den Vorschlag gern angenommen. Wir werden beide bei Maxine Wells wohnen. Die Zukunft gehört uns. Ich wusste doch, dass ich dich finden würde.«
»Ja, das habe ich jetzt verstanden.«
»Es ist auch in Ordnung – oder?«
»Für dich schon.«
»Und du wirst dich daran gewöhnen.«
Ja, das werde ich!, dachte sie. Ich werde vieles können, aber mich nie daran gewöhnen, mit einem derartigen Monster unter einem Dach zu leben. Das kommt nicht infrage. Dagegen werde ich etwas tun müssen, aber nicht sofort.
Randy Scott hatte Carlotta beobachtet. »Du bist so blass«, sagte er mit leiser Stimme. »Wie kommt das?«
»Es ist die Überraschung.«
Er musste lachen. »Ja, das kann stimmen. Aber auch die Angst, dass du nicht mit mir zurechtkommst. Oder?«
»Wie meinst du das?«
»Wie ich es sagte. Wir müssen miteinander auskommen, das werden wir auch, aber ich sage dir schon jetzt, dass getan wird, was ich will. Hast du das begriffen?«
»Schon, aber das wird nicht so leicht sein.«
»Wieso?«
»Du hast Maxine vergessen. Ihr gehört das Haus. Sie ist eine Tierärztin, zu der auch Patienten kommen. Es wird sich alles um sie und ihren Dienst drehen.«
»Das weiß ich. Was sie mit den Patienten anstellt, ist mir egal. Ich kümmere mich um andere Dinge.«
»Okay.«
Es war alles zwischen ihnen gesagt worden, nur eines nicht. Carlotta wollte wissen, wann sie hier wegkommen sollte.
»Das ist ganz leicht.«
»Aha. Und?«
»Ich werde dir deine Fessel gleich lösen. Dann geht es los. Du kannst ja auch fliegen. So muss ich mich nicht mehr um dich kümmern.«
Carlotta konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. Das lief ja alles wie geschmiert. Vergessen waren die Strapazen. Vergessen war auch der Schmerz am Knöchel.
In ihrer Nähe bückte sich Randy Scott, um die Eisenfessel zu lösen. Es klappte, und Carlotta war froh, sich wieder frei bewegen zu können.
Endlich wieder!
Sie trat ein paar Mal mit dem Fuß auf, dessen Knöchel in Mitleidenschaft gezogen war.
»Fertig?«, fragte Scott, der es plötzlich recht eilig hatte.
»Ja.«
»Dann komm. Aber mach dir keine große Hoffnungen.«
Sie stoppte ihren Schritt. »Was meinst du damit?«
»Hoffnungen, die eine Flucht betreffen.«
Carlotta fing an zu lachen. »Glaubst du denn, dass ich dir davonfliegen könnte?«
Er lachte. »Nein, das schaffst du nicht. Da bin ich immer schneller, das kann ich dir versprechen.«
»Außerdem will ich keinen Stress.«
»Meinst du das auch so?«
»Ja.«
»Dann lass uns starten.«
Gemeinsam traten sie bis an den Rand. Keiner schaute in die Tiefe, nur in die Weite. Der Himmel war, abgesehen von ein paar wenigen Vögeln, leer.
»Jetzt!«, sagte der Vogelmensch und stieß sich
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