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1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)

1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)

Titel: 1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Platthaus
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getan worden, es zu erhalten. Das Denkmalschutzschild auf dem kleinen zugewachsenen Gebäude wirkt wie ein Hohn.
    Das größte Baudenkmal Leipzigs ist das Völkerschlachtdenkmal selbst, gut neunzig Meter hoch, rund dreihunderttausend Tonnen schwer, ein Zementstampfbetonbau mit Fassadenverkleidung aus Granitporphyr, der im nahen Beucha gebrochen wurde, einer Ortschaft, die im Oktober 1813 durch dort lagernde napoleonische Truppen ausgeplündert worden war. Vierzehn Jahre dauerten die Bauarbeiten am Völkerschlachtdenkmal seit dem ersten Spatenstich am 18. Oktober 1898, was seine Ursache darin hatte, dass der vier Jahre zuvor eigens zur Finanzierung dieses Vorhabens gegründete Deutsche Patriotenbund den Riesenbau fast ausschließlich mittels Spenden errichten ließ, die dann doch nicht so reichlich flossen wie erwartet, und ausländisches Geld unerwünscht war. Schließlich trug die Stadt Leipzig große Teile der Baukosten bei. Treibende Kraft war Clemens Thieme, ein Leipziger Architekt, der Bruno Schmitz für den Bau gewann, einen Kollegen, der schon zuvor mit dem Kyffhäuserdenkmal und dem Deutschen Eck in Koblenz zwei der bedeutendsten Nationalgedenkstätten im wilhelminischen Kaiserreich entworfen hatte. Je weiter das Projekt fortschritt, desto mehr setzte Thieme allerdings seine eigene Vorstellung vom Aussehen des Denkmals durch, immer mit dem Argument, man müsse Kosten sparen. [453]
    Heute, ein Jahr vor dem zweihundertsten Jahrestag des Ereignisses, an das es erinnert, und dem eigenen hundertsten Geburtstag, ist das Völkerschlachtdenkmal ein ungewohnter Anblick. Die jahrzehntelang vertraute dunkle Verschmutzung des Mauerwerks ist in mühsamer Arbeit beseitigt worden, sodass der Koloss erstmals seit seiner Einweihung wieder hell erscheint. Von der Prager Straße aus habe ich den Hügel, auf dem er liegt, zur Hinterseite des Denkmals hin erklettert – auch dies wieder eine künstliche Anhöhe, die aus dem Aushub aufgeschüttet wurde, der beim Bau der Fundamente angefallen war. Links unter mir liegt der Südfriedhof, der 1886, also noch vor dem Beginn des benachbarten Denkmalbaus, angelegt worden ist. Da hier die Stadterweiterung wegen der vielen Massengräber der Völkerschlacht unmöglich schien, machte man aus der Not eine Tugend und schuf den größten Leipziger Friedhof. Wenn man ihn betritt und die im Osten gelegenen Abteilungen XII und XVI aufsucht, kann man die Wirkung des Denkmals bestaunen – nicht nur seine Gigantengestalt auf dem Hügel gleich neben dem Friedhof, sondern mehr noch seine ideologische Wirkung, weil hier von 1914 an Grabstätten für im Ersten Weltkrieg gefallene Offiziere ausgewiesen wurden. Im Schatten des Monuments liegen fast ausschließlich Soldaten und deren Familien. So wurde das Völkerschlachtdenkmal zu einer Totenstätte, die noch über ihr eigenes Areal hinausgeht.
    Tatsächlich sollte der Bau nicht nur den Sieg von 1813 feiern, sondern auch der Toten gedenken, die damals starben. Doch um das zu verstehen, muss man ins Gebäude hinein. Von außen sieht man den Kranz der zehn Meter hohen, mit Schwertern bewaffneten Wächterfiguren («Hüter der Freiheit und Stützen des Reiches» werden sie in der Weiheschrift des Denkmals genannt [454] ) hoch oben am Bau und an der Vorderfront die genauso große einzelne Skulptur des gepanzerten Erzengels Michael, der beim Jüngsten Gericht das Urteil sprechen wird, aber hier als Personifikation des göttlichen Beistands für die deutschen Soldaten auftritt: Über ihm steht das «Gott mit uns» der preußischen Armee, das 1913 auch zum Wahlspruch der Truppen des Kaiserreichs geworden war. Zu beiden Seiten Michaels erstreckt sich zwischen den beiden Treppen zum Eingang auf den gesamten rund zwanzig Metern der Breite des Denkmalsockels ein Relief mit einer expressionistischen Schlachtenszene, dessen Bildprogramm aus übereinanderstürzenden Menschen- und Pferdeleibern wie eine Vorwegnahme von Picassos «Guernica» erscheint. Dem Herannahenden zeigt sich das Völkerschlachtdenkmal vor allem kriegerisch.

    Friedlich ist anders: die Wächterfiguren unterhalb der Krone des Völkerschlachtdenkmals kurz vor dessen Fertigstellung.
    Im Inneren ist das anders, wenn man vom Reiterzug-Relief in der hohen Betonkuppel absieht. In der Krypta, durch die man das Innere betritt, stehen abermals weit überlebensgroße Skulpturen von auf ihre Schwerter gestützten Ehrenwachen, die jeweils paarweise riesige Totenmasken einrahmen. Hier ist die eigentliche

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