1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)
Memorialensemble, denn neben Obelisk und Apelstein beherbergt der winzige Platz auch noch einen gewaltigen Findling, auf dem mittels aufgeschraubter Aluplaketten des von 1998 bis 2000 hier in der Nachbarschaft durchgeführten «Baus des Wassersystems und des grundhaften Ausbaus des Straßennetzes auf Initiative und durch Finanzierung der Anwohner mit Unterstützung aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und der Stadt Leipzig» gedacht wird. So hat der Hügel, auf dem drei Monarchen gelagert haben sollen, auch drei Gedenkstätten, und man wäre in hundert Jahren gern wieder mal hier, um zu sehen, ob das Lob der Infrastruktur die Zeiten überdauert haben wird.
Die Straße «Zum Denkmal» sticht durch das Wohngebiet um den Monarchenhügel bis zu einer weiten Weidefläche, über die hinweg man am Horizont genau im Osten gegen die Sonne den Kolmberg sehen kann. Das Gefühl für die Entfernungen der Völkerschlacht ist nunmehr ausgeprägter, und die Bewunderung für die logistische Leistung der Heeresbewegungen oder besser: das Erduldungsvermögen der Soldaten beider Seiten steigt. Von hier aus, wo der alliierte Kommandostand seinen Platz hatte, galt es am 18. November 1813, die Strecke in Richtung Leipzig bis zur Quandtschen Tabaksmühle freizukämpfen, wo sich Napoleon aufhielt. In friedlichen Zeiten entsprach dies einer runden Stunde Fußweg. Dorthin breche ich um Viertel vor zehn nun auf, auch zu Fuß.
Früher, als hier noch keine Häuser standen, wird man vom Monarchenhügel aus die Anhöhe mit der Tabaksmühle gesehen haben. Jetzt ragt, wenn man rechts auf dem Bürgersteig der Prager Straße bleibt, das Völkerschlachtdenkmal, das nahe bei Napoleons Befehlsstand liegt, über den Häuserzeilen vor mir auf. Fünfundzwanzig Minuten dauert der Marsch nach Probstheida, an einer Straße entlang, deren dichte Bebauung es schwermacht, sich vorzustellen, dass hier jenes offene Feld war, auf dem am 18. Oktober 1813 der Kampf vom Morgen bis in den späten Nachmittag hin und her wogte. Probstheida umfasste damals nur um die zwanzig Häuser und Höfe, doch die Struktur seines alten Dorfangers ist in der Russenstraße noch perfekt erhalten. Hier steht die nach den Zerstörungen vom 18. Oktober im Biedermeierstil neu errichtete Kirche, und davor liegt im Gras des Angers ein weiterer Findling, aber viel kleiner als der zu Ehren des Wassersystems von Meusdorf. «Stätte der Erinnerung ungezählter Gefallener» steht darauf zu lesen und «Gott mit uns», das Motto der preußischen Armee aus dem Wappen der Hohenzollern, dazu die Jahreszahl 1913. In den Jahren der DDR wurde auch hier und gleich neben dem alten Denkmal mit einer weiteren Inschrift daran erinnert, dass Probstheida sich als «Ort deutsch-russischer Waffenbrüderschaft» verstehen durfte.
Dies ist die Stelle, wo aller Denkmalskult zur Völkerschlacht begann, und das geschah auf alles andere als heroisierende Weise. Schon 1814, zum ersten Jahrestag des Sieges, wurde hier der Gefallenen gedacht und deshalb auf dem Dorfanger ein etwa zehn Meter hohes Holzkreuz errichtet, an dem eine Sammelbüchse angebracht war, in der Spenden für den Wiederaufbau der Kirche von Probstheida deponiert werden konnten. Hier hätte nach dem Willen der Leipziger Bürger wie auch der russischen Kommandantur, die das Aufstellen des Kreuzes genehmigt hatte, das Totengedenken jährliche Tradition werden sollen. Als aber die Alliierten im Jahr darauf auf dem Wiener Kongress die Teilung Sachsens beschlossen, wurde das Kreuz heimlich umgesägt, «wobei in die an dem Stamme desselben angebrachte Büchse zur Aufnahme von milden Beisteuern für die Bewohner des fast ganz zerstörten Dorfes zwei Louisd’or in einem Papier mit der Aufschrift eingelegt waren: ‹Von den Vertilgern des Kreuzes›». [452] Die stolzen Sachsen, die angesichts der Demütigung ihres Landes die Völkerschlacht nunmehr nicht länger als Befreiung, sondern als Niederlage ansahen, wahrten also immerhin Anstand, als sie das christliche Symbol abräumten.
Links und rechts der Russenstraße stehen noch einige alte Hofanlagen und Häuser in Fachwerk, die den Angriff und die Feuer vom 18. Oktober 1813 überstanden haben, über einzelnen Toren sind wieder Kanonenkugeln in den Fassadenputz eingelassen. Ein barockes Gartenhaus steht hinter der Kirche und verfällt vor sich hin. Ein Vierteljahrtausend mindestens muss dieses Gebäude überlebt haben, ehe die DDR es verkommen ließ, und seit der Wende ist auch nichts dafür
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