1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)
Totengedenkstätte, während auf dem oberen Umgang vier Monumentalfiguren als Sinnbilder deutscher Volkskraft, Opferwilligkeit, Frömmigkeit und deutschen Heldenmutes stehen. Sie alle wie auch die Ehrenwächter in der Krypta haben geschlossene Augen und scheinen zu schlafen, aber ihre Wirkung ist darauf ausgelegt, dass sie das Gefühl vermitteln, jederzeit erwachen zu können. Vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, die Diktatur des «Dritten Reichs» bis zum SED-Regime der DDR bedienten sich alle deutschen Staatsformen, die sich den Nationalismus zunutze machten, dieses Geländes und Gebäudes – bevorzugt mit Fackelzügen und Aufmärschen. Hier wurde auch das letzte Gefecht bei der Einnahme Leipzigs durch amerikanische Truppen im April 1945 geführt: Nationalsozialistische Fanatiker hatten sich im Völkerschlachtdenkmal verschanzt, und die Amerikaner mussten Artillerie einsetzen, um die Belagerten zu überzeugen, dass die dicken Wände sie nicht schützen konnten. Dieses Erbe wird das «Völki», wie die Leipziger Presse ihr Monument rechtzeitig vor dem Jubiläum verniedlicht hat, nicht wieder los.
Die schönste Gedenkstätte der Völkerschlacht aber liegt nur dreihundert Meter entfernt. Auf dem südlichen der beiden Wälle längs des künstlichen Sees vor dem Denkmal, in dem sich der Koloss spiegelt, kann man unter Bäumen entlangspazieren und kurz vor dem Ende der Gesamtanlage über eine Rampe nach links auf den gigantischen Parkplatz vor dem Eingang zum Südfriedhof heruntergehen. Auf der anderen Seite sind es dann nur noch ein paar Schritte bis zum ehemaligen Standort der Quandtschen Tabaksmühle, die am 19. Oktober 1813 abbrannte, vermutlich von den Franzosen beim Abzug noch angesteckt oder durch ein spätes Artilleriegefecht in Brand geschossen. Ihre Errichtung im Jahr 1743 durch Johann Gottfried Quandt verdankte sich vor allem der Nachbarschaft von Calvinisten, die im siebzehnten Jahrhundert als Glaubensverfolgte aus Frankreich nach Sachsen geflüchtet waren und sich bevorzugt in der und um die Handelsmetropole Leipzig angesiedelt hatten. In Stötteritz bauten sie Tabak an, und die nahe Marienhöhe bot den richtigen Platz für den Bau einer Mühle. Siebzig Jahre später hatte Napoleon von hier den besten Ausblick aufs südliche Schlachtfeld – eine Perspektive, die man heute erahnen muss, denn ringsum wachsen Bäume, und das Völkerschlachtdenkmal mit seinen imposanten Ausmaßen dominiert derart die Umgebung, dass man sich nach Süden hin kaum die frühere Ebene vorstellen kann.
Von der ehemaligen Anhöhe ist also nichts mehr zu merken. Doch inmitten einer runden Lichtung steht seit 1857 auf einer maulwurfshügelartigen, umzäunten Aufschüttung das aufwendigste Denkmal, das der «Verein zur Feier des 19. Oktober» hat aufstellen lassen: der Napoleonstein. Wie auf Kolm- und Galgenberg wird ein großer Sockel von einem Granitquader gekrönt, doch hier hat man das Denkmal noch mit bronzenen Accessoires geschmückt. Obenauf sind der typische Zweispitz, Landkarten, ein Degen und ein Fernrohr nachgebildet, die auf einem Kissen liegen, als hätte der Kaiser der Franzosen den Ort seines Feldstuhls gerade erst hastig verlassen. Was ich an diesem Denkmal liebe, zu dem sich trotz der direkt daneben verlaufenden Hauptstraße kaum noch jemand verirrt, ist der subtile Humor dieser Darstellung und der Respekt für den geschlagenen Feind, der hier durch Feldherrenattribute personifiziert ist. Zugleich aber nimmt das Motiv dieser niedergelegten Kriegsausrüstung einen seit Julius Cäsars Schilderung der gallischen Kapitulation bei Alesia [455] klassischen Topos des Triumphs über einen hartnäckigen Feind auf. Nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 sollte die im «De bello Gallico» geschilderte Übergabe der Waffen durch den Gallierfürsten Vercingetorix im gleichfalls geschlagenen Frankreich zum Nationalmythos avancieren. Die Darstellungen auf Gemälden, Reliefs und in Buchillustrationen sind Legion. Das Leipziger Denkmal jedoch entstand vor dieser Zeit, kann also weder als Spott noch als Ironie gedeutet werden. Es zeigt aber, wie geschichtsbewusst die Denkmalbauer dachten.
Ehre wird Napoleon auch dadurch zuteil, dass nur bei diesem vorletzten von insgesamt sieben Denkmalen, die der «Verein zur Feier des 19. Oktober» errichtet hat, der Name desjenigen, dem es gewidmet ist, in Großbuchstaben eingraviert ist. In frisch aufgetragenem Gold heißt es auf der Vorderseite: «Hier weilte NAPOLEON am 18. Oktober 1813,
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