1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Kampfgefährten gut genug, um zu wissen, was in ihm vorging. Er selbst konnte über solche Dinge spotten. Aber vermutlich würde ihn auch kein anständiger Ostfriese für einen Verräter halten, weil er in der preußischen Armee kämpfte. Und sollte es jemand tun, wäre es ihm gleichgültig.
Thielmann jedoch war nicht so gelassen wie er; der war sehr stolz, manchmal aufbrausend, doch dahinter steckte eine tiefe Verletzlichkeit. Der Sachse hatte sich mit Tüchtigkeit und Mut den Generalsrang erkämpft und war erst vor einem Jahr in den Freiherrenstand erhoben worden. Vor allen seinen Landsleuten als Verräter geschmäht zu werden fraß an seiner Selbstachtung und seinem Ehrgefühl.
Deshalb suchte Colomb den Generalleutnant in seinem Quartier auf und sagte frohgelaunt: »Ich gratuliere! Soeben sind Sie von Bonaparte zum Feind Nummer eins unter allen Sachsen erklärt worden. Eine große Ehre, Sie können stolz auf sich sein!«
Anzeichen
Freiberg, 3 . Oktober 1813
D er unruhige September war verstrichen, der Oktober begann kalt, nass und sorgenvoll. Jedermann erwartete, dass etwas geschah. Irgendetwas Schreckliches. Die Plänkeleien zwischen den gewaltigen Armeen im Land würden nicht mehr ewig fortdauern, sie glichen einer brennenden Zündschnur. Jeden Augenblick konnte die große Explosion folgen, der Entscheidungskampf in diesem endlos scheinenden Krieg.
Oft musste Jette an Étiennes Worte denken: an die gewaltige Schlacht, die geschlagen werden würde, mit fünfhunderttausend Mann, die längst gegeneinander aufmarschierten. Welcher menschliche Geist konnte sich so etwas vorstellen? Eine halbe Million Menschen auf einem riesigen Schlachtfeld – so musste Armageddon aussehen!
Was der Bauernsohn und Zastrow-Kürassier Johann Enge vorausgesagt hatte, konnte nun auch niemand mehr ignorieren. Nahrung wurde knapp. Alle hofften, dass die Kartoffelernte noch vor dem großen Krieg eingefahren wurde und gute Erträge brachte. Mit Kartoffeln war schon manche Hungersnot abgewendet worden.
Die Ströme der Fahnenflüchtigen nahmen weiter zu. Und obwohl auf Napoleons Befehl seit Mitte September alle Verletzten, die nicht bald wieder genesen würden, nach Frankreich geschickt wurden, sank die Zahl der Verwundeten und Kranken in den Lazaretten einfach nicht. Täglich kamen neue nach Freiberg, teilweise von weit her.
An einem dieser kalten, nebligen Oktobertage geschah es, dass Henriette bei ihrem vormittäglichen Einsatz im Lazarett am Muldenberg zusammensackte und umfiel.
Die Verwundeten in ihrer Nähe, die sie kannten und für ihre Hilfsbereitschaft liebten, riefen aufgeregt nach einem Arzt. Ernst Ludwig Meuder kam und erschrak.
Sofort fühlte er ihre Stirn und den Puls und schaute in ihren Mund, ob sich dort schon die Anzeichen für eine Infektion mit dem Lazarettfieber zeigten.
»Es ist nicht das Fieber!«, beruhigte er die bestürzten Patienten, nahm Henriette vorsichtig in seine Arme und trug sie zu einem der Tische, auf denen sonst operiert wurde. Es gab keine freien Betten, und auf den nackten Boden wollte er sie nicht legen.
»Sie sind erschöpft; Sie haben sich überanstrengt«, sagte er, als Jette wieder zu sich kam. Vor lauter Erleichterung darüber, dass sie sich nicht mit dem gefährlichen Lazarettfieber angesteckt hatte, kam er gar nicht auf den Gedanken, andere Gründe für ihren Zusammenbruch zu vermuten.
Er gab Jette ein Glas Wasser, half ihr, sich vorsichtig aufzusetzen, und blieb an ihrer Seite, bis sie erklärte, sie fühle sich stark genug, um weiterzuarbeiten.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, widersprach er ganz entschieden. »Ich begleite Sie nach Hause, und Sie ruhen sich ein paar Tage aus. Das ist meine ärztliche Verordnung.« Er milderte die Strenge in seinen Worten mit einem Lächeln.
»Sie können hier nicht weg bei all der vielen Arbeit«, wandte sie ein, weil er sie verlegen machte.
»Auf keinen Fall lasse ich Sie allein gehen«, beharrte der Arzt. »Wir werden hier kein Gespann auftreiben, und der Weg ist zu weit für Sie in diesem Zustand. Fühlen Sie sich kräftig genug, um vor mir im Sattel zu sitzen?«
Es erregte großes Aufsehen, als der junge Stadtarzt mit Jette vor sich auf seinem Braunen zum Gerlachschen Haus geritten kam und von ihrem Zusammenbruch berichtete.
Johanna veranstaltete genau das Spektakel, das Jette befürchtet hatte. Sie rang die Hände vor Sorge und vor Erleichterung, dass es nicht das Lazarettfieber war, und wiederholte in einem fort: »Ich habe
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