1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
war, und Friedrich Gerlach. Doch seit ihrer Flucht aus Weißenfels hatte sie das Schreiben aufgegeben. Im Krieg schwiegen die Musen. Nach all dem Grauen, das sie erleben musste, hatte sie geglaubt, nie wieder eine Zeile schreiben zu können, keine Worte mehr zu finden.
Doch hier, umgeben von mehr als hundert frierenden, hungernden und um ihr Leben zitternden Dorfbewohnern, da fand sie die richtigen Worte. Um Mut zu machen, inmitten der Verzweiflung ein wenig Hoffnung zu spenden. Nur für diesen Moment. Nicht dazu gedacht, sie einmal niederzuschreiben.
»Die Engel müssen Sie gesandt haben!«
Diese Worte der Bäuerin gingen Felix nicht mehr aus dem Kopf, während er Jette zuhörte und sie beobachtete. Dabei kam ihm der irrationale Gedanke, ob nicht etwa
das
Jettes Mission auf dieser aller Vernunft widersprechenden Reise war: den zwei Mädchen das Leben zu retten, den Verängstigten in der Kirche Trost und Mut zu spenden …
Wer wusste, wohin das Schicksal ihre Schritte lenken würde, was ihr noch als Aufgabe bestimmt war?
Das klang sehr mystisch.
Viel
zu mystisch für einen Studenten der Naturwissenschaften. Deshalb mochte er dieser Erklärung selbst nicht trauen. Wollte er damit nur sein Gewissen reinwaschen, weil er Henriette an diesen gefährlichen Ort geführt hatte, statt ihr die Reise auszureden, damit sie behütet bei ihren Verwandten in Freiberg blieb?
Nach Jettes Geständnis, die Stadt heimlich verlassen zu müssen, hatte Felix eine Nacht lang mit sich gerungen, ob er das wirklich tun sollte: sich mit ihr fortschleichen, sie aus ihrem vertrauten Leben reißen und an den Ort bringen, wo der Krieg am schlimmsten toben würde.
Es war leichtsinnig, verantwortungslos, wahnwitzig. Sie würde ihren guten Ruf, ihre Sicherheit – sofern es Sicherheit in diesen Zeiten gab – und vielleicht sogar ihr Leben verlieren.
Eine Weile erwog er, Friedrich Gerlach in ihr gefährliches Vorhaben einzuweihen, damit der sie davon abhielt. Doch er hatte Jette geschworen, Stillschweigen zu bewahren. Außerdem wusste er tief in seinem Herzen: Sie würde gehen, so oder so, auch wenn er die Gründe dafür nicht verstand. Noch nicht.
Immerhin hatte sie es schon einmal unbeschadet durch Kriegsgebiet geschafft, sogar mit ihrem kleinen Bruder.
Jetzt besaß sie einen Geleitbrief, und er würde sie mit seinem Leben verteidigen, falls es nötig war. Er hatte zu kämpfen gelernt, auch wenn er derzeit keine Waffe besaß außer einem gut versteckten Dolch.
Am gleichen Tag noch schrieb er an Hermann, Greta und Ludwig und bat sie, nach Möglichkeit eine Schlafgelegenheit für Henriette zu besorgen. Auf Antwort konnte er nicht hoffen. Wer wusste schon, ob in diesen Tagen überhaupt noch Post bis nach Leipzig befördert wurde? Aber im besten Fall waren die drei auf ihr Kommen vorbereitet.
Er schrieb auch seinen Eltern, sie sollten sich nicht sorgen, falls keine Briefe von ihm kämen, der Postverkehr sei durch die Kriegswirren weitgehend lahmgelegt.
Natürlich fragte sich Felix voller Eifersucht, ob eine heimliche Liebe Jette nach Leipzig zog. Vielleicht Ludwig oder dieser von Trebra? Andererseits hatte sie gesagt, sie kenne dort keinen Menschen, der sie aufnehmen würde.
Dass die Gerüchte stimmten, die in Freiberg umgingen – eine Liaison zwischen ihr und diesem französischen Lieutenant –, hielt er für vollkommen abwegig. Ausgeschlossen. Sie würde sich doch nicht mit einem Feind einlassen!
Dafür stand ihm noch lebhaft vor Augen, wie der verletzte preußische Premierleutnant sie im Mai in der Hauptwache auf dem Obermarkt umschwärmt hatte. Das war jetzt fast auf den Tag genau fünf Monate her. Hundert Jahre schienen seitdem vergangen. Aber Henriette würde nicht so einfältig sein, einen einzigen Mann unter einer halben Million Kämpfer suchen zu wollen.
Die ganze Nacht lang rang er so mit sich. Am nächsten Morgen suchte er erneut die Gerlachsche Buchhandlung auf.
»Sind Sie immer noch entschlossen fortzugehen?«
»Ja, und vollkommen bereit. Wir können heute noch aufbrechen.«
»Gut«, meinte Felix. »Dann sollten wir auch wirklich heute gehen, sonst kommen wir vielleicht nicht mehr durch. Ich bin vorhin auf den Turm der Petrikirche gestiegen und habe mir die Truppenbewegungen angesehen.«
Dafür hatte er sich sogar ein Fernrohr geliehen. Längst konnte er die Uniformen der einzelnen Armeen auseinanderhalten. »Vielleicht ziehen morgen Mittag schon die Russen in die Stadt ein. Die französische Kavallerie hat
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