1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Marschorder für morgen früh. Wir sollten vor ihnen aufbrechen, damit es kein Gerede gibt oder man nicht bei den französischen Truppen nach Ihnen forscht. Es ist doch so, dass niemand wissen darf, wohin und mit wem Sie die Stadt verlassen, nicht wahr? Sollte uns Pajols Kavallerie einholen, zeigen wir den Geleitbrief und dürfen im besten Fall sogar auf einen der Trosskarren. Aber losgehen müssen wir zu Fuß.«
Jette erklärte sich mit allem einverstanden.
Auch sie hatte längst geplant, wie sie unbemerkt von hier fortkam. »Ich gehe jeden Tag nach dem Mittagessen ins Lazarett. Warten Sie halb zwei am Muldenweg auf mich, dann schlagen wir uns Richtung Leipzig durch.«
Ohne es zu wissen, waren sie genau an jenem 7 . Oktober aufgebrochen, als Napoleon und der sächsische König Dresden verließen und sich ebenfalls auf eine Art Irrfahrt begaben. Einen Tag später besetzten russische Truppen unter einem General Knorring Freiberg. Aber davon erfuhren Henriette und Felix nichts mehr.
Eine ganze Woche waren sie nun schon unterwegs, zu Fuß, immer auf Nebenwegen, um Begegnungen mit dem Militär zu vermeiden. Felix hatte beim Rittmeister von Colomb die Kunst erlernt, sich vor dem Feind zu verbergen. Unbemerkt folgten sie dem Kavalleriekorps des Generals Pajol in der Überzeugung, so oder so nach Leipzig zu gelangen. Manchmal mussten sie große Umwege machen, weil die ganze Gegend von Militär verstopft war.
Nachts baten sie in irgendeinem Bauernhaus um eine bescheidene Schlafstatt. Und das war schon viel verlangt, denn überall in den Dörfern hatten die in gewaltiger Zahl durchziehenden Truppen verheerende Spuren hinterlassen. Sämtliche Vorräte waren geplündert, das Vieh weggeführt oder gleich an Ort und Stelle geschlachtet und verzehrt, die Obstbäume kahl gepflückt, abgeschlagen und verfeuert. Dorfstraßen waren mit Bettfedern übersät, weil Plünderer die Betten aufgeschlitzt hatten, um sich aus dem Leinen Ersatz für ihre auf wochenlangen Märschen verschlissenen Beinkleider zu fertigen.
Felix und Jette gaben sich als Geschwister aus, die nach dem Tod ihrer Eltern zu den einzigen noch lebenden Verwandten in Leipzig wollten, und ernteten viel Kopfschütteln für dieses Vorhaben.
Gestern Abend waren sie auf ihrem Marsch dem Pfarrer des Nachbarortes Seifertshain begegnet, der mit seiner Tochter Auguste gerade aus Leipzig zurückkam, wo er unaufschiebbare Geschäfte zu erledigen hatte.
Pfarrer Carl Gottlieb Vater schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als er von ihrem Reiseziel erfuhr. »Um Himmels willen! Sie können jetzt keinesfalls nach Leipzig! Wir selbst hätten besser auch nicht dorthin gehen sollen, aber das ist uns erst unterwegs bewusst geworden. Kommen Sie mit uns und übernachten Sie im Pfarrhaus! Erzähl ihnen, liebes Kind, was wir unterwegs gesehen haben!«, forderte er seine Tochter auf, die in Jettes Alter war und wie diese das Haar zu einem einfachen Knoten gesteckt trug. Sie hätten Schwestern sein können, nur dass Auguste Vater etwas größer war als die zierliche Jette und ihr Haar heller.
»Ihr dürft nicht über Stötteritz, da ist alles voll von plündernden Soldaten der schlimmsten Sorte!«, warnte die Pfarrerstochter gleich, und auf ihrem schmalen Gesicht stand noch die Erschütterung über das Erlebte. »Kein Huhn, keine Gans ist vor denen sicher, kein Stück Wäsche, das sind wilde Horden! Wir hatten wirklich himmlischen Beistand, ungeschoren an ihnen vorbeizukommen. Die räumten ganze Häuser leer, um sich aus Tischen und Bänken, Gartenzäunen und Schindeln ein Feuer gegen die Kälte zu machen. Sie kannten kein Erbarmen, obwohl die Menschen sie anflehten, ihnen nicht noch die letzte Habe und das Dach überm Kopf zu nehmen.«
»Ich habe noch nie solche Menschenmengen gesehen … alles voll von Militär«, berichtete der Pfarrer erschöpft und überwältigt, während sie durch die zunehmende Dämmerung hasteten. »Das ganze Land rund um Leipzig ist ein einziges gewaltiges Biwak, Leipzig selbst übervoll von französischen Truppen. Auf den Straßen kommt man kaum durch vor lauter Leuten, und immer mehr Verwundete werden hineingebracht. Der König von Neapel fuhr hinaus, das Korps von Marschall Augereau ritt herein …«
»Ihr könnt nicht durch das Grimmaische Tor in die Stadt, das ist verbarrikadiert«, erklärte seine Tochter den beiden Gästen. »Nur das Kohlgärtner Tor ist offen, aber keiner weiß, wie lange noch. Der Torwächter sagte, nach Seifertshain würden die
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